Historie der Region Eine Geschichte der Sonderwege

Bosen · Doppel-Vortrag in der Bosener Mühle beleuchtet die Entwicklung des Saarlandes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

 80 Zuhörer waren zu dem Doppelvortrag von Paul Burgard vom Landesarchiv Saarbrücken und Autor und Journalist Klaus Brill in der Bosener Mühle gekommen. Er bildete den Abschluss einer Vortragsreihe, die die letzten fünf Jahrhunderte im St. Wendeler Land beleuchtete.

80 Zuhörer waren zu dem Doppelvortrag von Paul Burgard vom Landesarchiv Saarbrücken und Autor und Journalist Klaus Brill in der Bosener Mühle gekommen. Er bildete den Abschluss einer Vortragsreihe, die die letzten fünf Jahrhunderte im St. Wendeler Land beleuchtete.

Foto: Eva Henn

() Gemeinhin wird das 20. Jahrhundert auch als amerikanisches Jahrhundert bezeichnet. Der Eintritt der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg 1916 markierte den Startschuss, das Land jenseits des großen Teiches entwickelte sich zur dominierenden Weltmacht. Doch, in aller Bescheidenheit: Das 20. Jahrhundert könnte auch als saarländisches Jahrhundert bezeichnet werden. Schließlich markierte das Ende des Ersten Weltkrieges die Geburt des Saargebietes als territoriale Einheit. Und das Saarland beschritt nach dem Ersten wie nach dem Zweiten Weltkrieg einen, wenn auch jeweils kurzen, Sonderweg. Auf jeden Fall aber war das 20. Jahrhundert ein, dem Diktum des verstorbenen britischen Historikers Eric Hobsbawn folgend, Zeitalter der Extreme: Zwei Weltkriege in der ersten Hälfte, Frieden und Wohlstand, zumindest in großen Teilen der westlichen Welt, in der zweiten Hälfte. Über dieses Jahrhundert, international, national und regional, referierten Paul Burgard (Landesarchiv Saarbrücken) sowie der Autor und Journalist Klaus Brill in der Bosener Mühle. Dieser Doppelvortrag war der Abschluss einer Reihe, die die vergangenen 500 Jahre im St. Wendeler Land beleuchtete.

„Es war kein Wunschkind, das damals das Licht der internationalen Nachkriegswelt erblickte, kein geliebtes neues Staatswesen, auf das die Menschen in der deutschen oder saarländischen Heimat mit Stolz oder Zukunftshoffnung geblickt hätten“, eröffnete Burgard seinen Vortrag vor knapp 80 Zuhörern. Und es hieß auch noch nicht Saarland, sondern Saarbecken oder Saargebiet. Dieses 2000 Quadratmeter große Industriegebiet wurde nach dem Ersten Weltkrieg, den ersten großen Massenschlachten, vom deutschen Kaiserreich abgetrennt, von einer internationalen Kommission verwaltet. 1935 der Urnengang an der Saar: Soll der Status quo beibehalten, das Land mit Frankreich oder aber mit dem mittlerweile nationalsozialistischen Deutschland vereint werden? Die große Mehrheit stimmte für das Deutsche Reich. Vier Jahre später dann der Zweite Weltkrieg. Burgard: „Der Siegeszug des Todes, der seit 1939 Europa heimsuchte, er ist nicht nur das erschreckendste Beispiel für die Grausamkeit und die Willkür der nationalsozialistischen Diktatur. Er ist auch ein einzigartiges Zeugnis dafür, was aus Menschen unter den Bedingungen entfesselter Gewalt werden kann.“

Kriegsende 1945. Und erneut die Frage: Wie soll es mit dem Saarland weitergehen? Brill: „Das Saarland war erneut vom deutschen Staatsgebiet abgetrennt und figurierte als teilautonomes Territorium unter französischer Oberhoheit. Unsere Eltern und Großeltern hatten Pässe der ‚République Française‘ mit dem Aufdruck: ‚Nationalité Sarroise‘.“ Das Saarland mit einer Sonderrolle, die Chance auf einen epochalen Sonderweg. Denn ein supranationaler Status war angedacht, das Gebiet unter europäischer Verwaltung, die Ansiedlung europäischer Institutionen an der Saar. Das europäische Statut lehnten die Saarländer allerdings ab, als sie 1955 erneut an die Wahlurne gerufen wurden. Und stimmten für die Vereinigung mit der Bundesrepublik. Brill: „In jenem Schicksalsjahr 1955 endete die höchstwahrscheinlich interessanteste Epoche der Saar-Geschichte, die auch in der internationalen Presse große Aufmerksamkeit fand. So berühmt wurden wir nie wieder.“

Es folgten die Jahre des Wirtschaftswunders, doch auch die Zeiten des Strukturwandels. Die Landwirtschaft verlor zunehmend an Bedeutung, Kohle- und Stahlkrise erschütterten das Land, Arbeitsplätze gingen verloren. Neue entstanden, etwa im Tourismus. Brill: „Der Bostalsee-Komplex steht damit beispielhaft für einen neuen Strukturwandel, der sich gerade vor unser aller Augen vollzieht.“ So verzeichnete das Saarland 2016 rund drei Millionen Übernachtungen, fast ein Drittel davon im Landkreis St. Wendel, und hier vor allem am Bostalsee.

Doch auch in anderen Bereichen könne sich das St. Wendeler Land sehen lassen: innovative Unternehmen, neue Arbeitsplätze, früher die höchsten, heute die niedrigsten Arbeitslosenzahlen im Saarland. Brill: „Der Kreis St. Wendel, der zwar mit 476 Quadratkilometern 17 Prozent der saarländischen Fläche einnimmt, aber mit knapp 89000 Einwohnern nur neun Prozent der Einwohner stellt, ist im Land der Spitzenreiter. Also ist hierzulande der Strukturwandel in wirtschaftlicher Hinsicht offenbar geglückt.“

 Autor und Journalist Klaus Brill bei seinem Vortrag in Bosen.

Autor und Journalist Klaus Brill bei seinem Vortrag in Bosen.

Foto: Eva Henn

Doch der Fortschritt, der Wandel der Welt, hat auch Schattenseiten, hier wie woanders. Die Bevölkerungszahl sinkt, soziale Strukturen veröden, das gesellschaftliche Zusammenleben leidet. Beispiel: die angespannte Situation vieler Vereine. Sie ringen um Mitglieder, schränken notgedrungen ihre Arbeit ein. Dabei seien sie, betonte Brill, doch Lebenselixier und ein Stück Heimat. Und: „Sie sind das sogenannte soziale Kapital, das jede demokratische Gesellschaft braucht. Erst dadurch wird sie zur Bürgergesellschaft.“Fortschritt, Globalisierung: Gerade jetzt sei ein Besinnen auf die eigenen Wurzeln wichtig, ein modernes Heimatbewusstsein, fern jeder Fremdenfeindlichkeit, fern jedweder Verklärung. Gerade in der Region. Schließlich biete sie einiges. Brill: „Wir haben zur Weltkultur etwas beizusteuern, und zwar nicht nur den Dibbelabbes und ein gotisches Juwel, die älteste urkundlich belegte Abtei auf deutschem Boden, sondern beispielsweise auch die Skulpturen von Leo Kornbrust und die Gedichte von Johannes Kühn, die weit über das Saarland und weit über Deutschland hinaus Anerkennung gefunden haben.“ Und so vieles mehr, was in den Jahrhunderten geformt wurde, von innen wie außen, und die Region zu dem macht, was und wie sie heute ist.

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