Ausstellung in der Bosener Mühle Wenn selbst der Probelappen Kunst wird

Bosen · Pia Welsch und Judith Boy zeigen derzeit im Kunstzentrum Bosener Mühle die Ausstellung „Alles Stoff“.

 Kein Quilt ohne Entwurf: Auch die bunten „Probelappen“ von Pia Welsch ziehen, an einer Leine aufgefädelt, die Blicke auf sich.

Kein Quilt ohne Entwurf: Auch die bunten „Probelappen“ von Pia Welsch ziehen, an einer Leine aufgefädelt, die Blicke auf sich.

Foto: Marion Schmidt

„Alles Stoff“ heißt eine Ausstellung, die aktuell den Galerieraum des Kunstzentrums Bosener Mühle farbenfroh in Szene setzt und darauf wartet, im Auge des Betrachters zum Kunstgenuss erhoben zu werden. Was ja in Zeiten von Pandemie und Lockdown nicht so einfach möglich ist – aber nicht unmöglich. Das Kunstzentrum hat es gewagt, mit der Ausstellung „Alles Stoff“ wieder die Pforten für die Besucher zu öffnen. Sowohl vollständig geimpfte als auch genesene Kunstfreunde können das Kunstzentrum wieder ohne weitere Voraussetzung besuchen, alle anderen mit einem negativen Coronatest.

Und der Besuch lohnt sich. Denn die Stoffarbeiten von Pia Welsch und Judith Boy sind wahre Meisterwerke hinsichtlich Technik, Umsetzung und Farbvielflat. Letztere vereinnahmt den Beuscher schon beim Eintreten. Leuchtend bunte Farben, wo man nur hinschaut, erfüllen den Ausstellungsraum und versprühen eine Heiterkeit und Lebensfreude, die gerade jetzt vielen Menschen so guttun würde. Beide Künstlerinnen haben sich mit ihren Arbeiten einem klischeebehaften Material zugewandt. Dazu Christoph M Frisch, der Leiter des Kunstzentrums: „Künstlerinnen, die mit dem Material Stoff agieren, werden allzu schnell gewissen Schubladen zugeordnet. Daraus folgt bisweilen eine abwertende Betrachtung im Gefüge des Kunstgeschehens. Warum dies so ist, bleibt ein wenig schleierhaft.“

Pia Welsch und Judith Boy haben ihren eigenen Umgang mit der Materie gefunden und zeigen die unendliche Schöpfungsvielfalt, die das Arbeiten mit Stoffen bietet. Die seit 14 Jahren in Sizilien lebende Modedesignerin Judith Boy erfindet Gefundes neu. „Upcycling mag man darüber schreiben. Sichtbar, der noch unentschiedene Kampf zwischen textilem Design und freier Plastik“, so Christoph M. Frisch. Pia Welsch wirkt mit beinahe grenzenloser Farbenfreude und spielerischer Formenvielfalt kunstvolle Stoffwerke, die in der Tradition des amerikanischen Quilthandwerks stehen. „Pia Welsch schafft sich einen intellektuellen Rahmen aus persönlichen, historischen und literarischen Attributen. Sie bilden einen eigenen Kosmos, aus dem sie ihre farbenfreudigen, aber auch hintergründigen Objekte kreiert. Beiden Künstlerinnen zu eigen ist der virtuose Umgang mit dem Material sowie die Kraft, sich in einem schwierigen Umfeld sichtbar zu machen“, erklärt er Leiter des Kunstzentrums.

Judith Boys Kleiderkunst-Objekte wollen entdeckt werden. So ist es meist der zweite Blick, der das Ursprüngliche preisgibt. Mal sind es abgelegte Herrenkrawatten, mal entsorgte Rollos oder gar ein weggeworfenes, dem Zerfall preisgegebenes Brautkleid. Judith Boy bringt das Gefundene in neue Zusammenhänge, gibt ihm einen neuen Sinn. So darf sich eine Krawatte zu einem Hut winden. Ein Rollo, das die Funktion hatte zu verdecken, rückt nun kunstvoll bemalt mit einem dekorativen Moment als Wandbehang in den Vordergrund. Auch eine verholzte Zucchini, rot koloriert und an den Enden mit ebenso roten Netzen akzentuiert, wird zum Kunstobjekt. Judith Boys aus Upcyling-Materialien entstandene Kleiderkunst findet auch auf Theaterbühnen eine neue Bestimmung.

 Judith Boy erweckt eine verholzte Zucchini zu neuem Leben als koloriertes Kunstobjekt.

Judith Boy erweckt eine verholzte Zucchini zu neuem Leben als koloriertes Kunstobjekt.

Foto: Marion Schmidt

Pia Welsch beschäftigt sich seit 1995 mit Textilkunst und hat vor allem die Techniken Patchwork und Quilten für sich entdeckt. 2007 kam dann noch das Sticken von Hand wie mit der Maschine hinzu. „Begonnen hat es, als ich als junge Frau Ende der 1970-er-Jahre mit Amish-Quilts in Kontakt kam. Ich war in den USA zu Besuch und habe Ohio bereist und dabei diese wunderbaren Arbeiten gesehen. Dass es Decken waren, also Gebrauchsgegenstände, fand ich nebensächlich, für mich war das Kunst und zwar etwas, was ich selbst erlernen wollte“, verrät die in Homburg lebende, gelernte Buchhändlerin. Pia Welsch hat sich in der Quilt-Szene einen Namen gemacht. So schreibt sie regelmäßig für ein Patchwork-Magazin, gründete ihre eigene Quilt-Werkstatt und hat unter anderem in St. Gallen, Birmingham und Moskau ausgestellt. Neben dem „Machen“ hat sie auch das Unterrichten für sich entdeckt: „Dafür bin ich durchaus weltweit unterwegs, das entfernteste Land war Bhutan im Himalaya. Dort durfte ich 2016 an einer Schule für traditionelle Künste die Textil-Klasse unterrichten.“ Pia Welsch hat ihren eigenen freien Quiltstil gefunden. Unübersehbares Merkmal ihrer in Bosen gezeigten Quilts sind die leuchtenden Farben und außergewöhnlichen Muster. Jeder Quilt ein Unikat, das die Blicke von weitem auf sich zieht und beim Nähertreten die technische Raffinesse der Künstlerin offenbart. Neben den großen, die Ausstellungswände auskleidenden Quilts fällt eine über der Balustrade gespannte Leine auf, die an eine Wäscheleine erinnert. Der Reihe nach aufgehängt hat die Künstlerin hier ihre bekannten „Probelappen“, jeder ein kleines Kunstwerk für sich. „Wer bei mir einen Kurs besucht, wird sehr schnell mit den Probelappen Bekanntschaft machen. Vor allem beim Maschinensticken halte ich es für absolut notwendig, Struktur, Textur, Farben und das entworfene Design einer Stickerei mehrfach auszuprobieren, um die gewünschte Wirkung zu überprüfen“, verrät Pia Welsch.

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