Blick hinter das Kleinbürgertum

Marpingen · Die Theater-AG der Gemeinschaftsschule Marpingen hat das anspruchsvolle Stück „Geschichten aus dem Wiener Wald“ von Ödön von Horváth aufgeführt. Vier Monate lang haben sich Schüler und Lehrer jeden Samstag getroffen und geprobt.

 Sie hatte sich ein anspruchsvolles Stück ausgesucht: Die Theater-AG der Gemeinschaftsschule Marpingen zeigte „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Foto: Sarah Konrad

Sie hatte sich ein anspruchsvolles Stück ausgesucht: Die Theater-AG der Gemeinschaftsschule Marpingen zeigte „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Foto: Sarah Konrad

Foto: Sarah Konrad

Um 22 Uhr hat der qualvolle Prozess ein Ende. Die Entwicklung vom schüchternen Mädchen zur Prostituierten ist abgeschlossen. Das Schlussbild könnte kaum makabrer sein: Nach einem langen Kampf fällt Marianne in die Arme des Metzgers Oskar. Und der trägt sie davon wie ein Stück Fleisch. Ohne Gefühle. Ohne Liebe.

Zwei Stunden zuvor: Eine große, schwarze Plane hängt in der Eingangshalle der Gemeinschaftsschule Marpingen . Sie trennt Bühne und Publikum vom restlichen Gebäude. Blaue Zettel liegen auf den Stühlen, kündigen den rund 100 Zuschauern an, welches Stück die Schüler der Theater-AG heute Abend vorführen werden. "Geschichten aus dem Wiener Wald" von Horváth steht auf der Vorderseite des Flyers. Darunter ist das Bild eines Klavierflügels zu sehen. Er steht für Johannes Strauss' Wiener Walzer, dessen Klänge das Schauspiel begleiten.

Die Musik klingt freundlich, doch hinter der Fassade einer scheinbar korrekten Gesellschaft spielen sich große und kleine Tragödien ab. "Horváth führt uns in die Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929. Mitten in ein Milieu von Kleinbürgern, aus denen sich zum großen Teil die Wählerschaft der Nazis rekrutiert", erklärt Lehrer und Regisseur Klemens Bott, bevor das Theater beginnt.

Keine Chance auf Freiheit

Anschließend stellt er die einzelnen Charaktere vor. Da ist zum Beispiel Marianne. Sie ist die Einzige, die gegen die bürgerliche Konvention und nach moralischen Prinzipien handelt. Ihr Vater, der "Zauberkönig", der einen Puppenladen führt, will sie mit dem Metzger Oskar verheiraten. Der beutet Marianne aus, sieht sie lediglich als Dienerin. Die junge Frau flüchtet. Gemeinsam mit dem verschuldeten Nichtskönner Alfred rennt sie davon. Keineswegs um gegen die spießige Gesellschaft zu rebellieren. Nein, Marianne folgt einfach ihrem Herzen. Und wird dafür bestraft. Mit einer unglücklichen Beziehung, finanziellen Nöten - und einem Kind.

"Die Rolle der Marianne zu spielen, ist eine Herausforderung. Sie hat viele Facetten und wandelt sich stark", sagt Hannah Bastuck. Die 18-Jährige ist schon seit sechs Jahren in der Theater-AG, macht dieses Jahr Abitur und wollte zum Abschluss noch einmal richtig Gas geben. "Bei dem Stück kommt es nicht nur darauf an, dass alle ihren Text auswendig gelernt haben", erklärt sie, "damit die Zuschauer den Sinn der Geschichte verstehen, muss auch richtig geschauspielert werden." Die Sprache, die Mimik und Gestik - all das seien wichtige Puzzleteile, die dem Publikum helfen, einen Charakter zu durchschauen.

Bei "Mister" ist keine tiefsinnige Analyse nötig. Als der schmierige Herr die Bühne betritt, ist gleich klar: Sex ist alles, was für ihn zählt. Der Ex-Wiener, der aus Amerika zurück in seine Heimat gekehrt ist, behauptet von sich selbst: "Ich bin innerlich tot. Geschlechtsverkehr habe ich nur noch mit Prostituierten." Er möchte auch Marianne zur Nutte machen und zerstört so den letzten Rest ihres Selbstwertgefühls. Alfred interessiert sich nicht für das Schicksal seiner Geliebten. Stattdessen lässt er sich auf einen Deal mit seiner teuflischen Großmutter ein. Die verspricht: "Wenn du Marianne verlässt, gebe ich dir so viel Geld, wie du zum Leben brauchst." Und so bleibt der Frau zum Schluss keine andere Wahl. Sie muss zu Metzger Oskar zurückkehren.

"Dieses Stück hat lustige Elemente und zugleich eine tiefe Tragik", sagt Lehrerin und Regisseurin Martina Pape nach der Aufführung. "Aber die Schüler wollten unbedingt etwas Anspruchsvolles spielen", erzählt sie weiter. Vier Monate lang haben sich Schüler und Lehrer jeden Samstag getroffen und geprobt. Außerdem waren sie gemeinsam drei Tage lang auf einem Workshop in Ottweiler. "Durch die Theater-AG lerne ich meine Schüler von einer anderen Seite kennen. Ich nehme ihre Persönlichkeit ganz anders wahr", berichtet Pape. Auch der Zusammenhalt unter den Jugendlichen werde mit der Zeit immer stärker. Das hat auch Tim Sicks beobachtet. Der Elftklässler spielte mit Alfred die männliche Hauptrolle und erklärt: "Dieses Jahr machen mehrere Mitglieder der AG ihren Abschluss und verlassen daher die Schule. Es ist heute also das letzte Mal, dass wir in der Konstellation zusammenspielen. Ich will gar nicht, dass es vorbei ist. Wir sind in den vergangenen Monaten richtig dicke Freunde geworden."

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Auf einen BlickDie Akteure der Theater-AG: Hannah Bastuck (Marianne), Tim Sicks (Alfred), Elisa Schu (Valerie), Florian Weimann (Zauberkönig), Sabrina Brill (Mutter), Claudia Fuchs (Großmutter), Benedikt Wetterau (Oskar), Melinda Sartorius (Havlitschek), Max Schlosser (Rittmeister), Anna Dieudoné (Erich), Christopher Folz (Ferdinand und Mister), Madita Kaiser (Conferencier und Baronin), Luisa Gaffga (Emma), Celine Ost (Tante), Christian Marosz (Beichtvater); Maske: Vera Heintz; Souffleuse: Sarah König; Plakat: Luisa Gaffga; Fotos: Michael Wolff; Kulisse: Hardy Recktenwald, Georg Wilhelm, Tanja Hameister, Klasse 9b; Technik: Julian Recktenwald, Benedikt Heck; Regie: Martina Pape, Klemens Bott. sara

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