Kolumne Das Dilemma der Aneignung

Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie mit diesen Buchstaben anschreibe. Denn ich weiß, dass es sich dabei um eine miese Aneignung handelt. Kommen die Zeichen doch ursprünglich von der Halbinsel Sinai.

SZ-Redakteur Thorsten Grim geißelt Auswüchse der Aneignung
Foto: Robby Lorenz

Dort, irgendwo zwischen Israel und Ägypten, formten vermutlich Nomaden aus ägyptischen Hieroglyphen vor Tausenden von Jahren das erste Alphabet.

Jene Buchstabensammlung übernahmen und modifizierten dann die Phönizier, nutzten sie schamlos für ihre Zwecke – und damit nicht genug: Sie verbreiten sie sogar weiter. Auch die alten Griechen fanden die Idee ganz praktisch, jedem Laut einen Buchstaben zuzuordnen, sodass man das gesprochene Wort aufschreiben und später noch einmal nach- oder sogar vorlesen konnte.

Etwas später waren es dann die Römer, die das lateinische Alphabet aus dem griechischen formten. Und so kam die Schrift irgendwann auch bei unseren keltischen Vorfahren an. Und jetzt haben wir den Salat: Wir missbrauchen bis heute ebenso selbstverständlich wie gewissenlos das geistig-kulturelle Erbe anderer Völker. Ich fühle mich dabei besonders schlecht.

Schließlich verdiene ich mit dem Schreiben von Texten, für die ich dieses mir nicht zustehende Alphabet benutze, auch noch Geld. Das ist wirklich oberschäbig. Jetzt würde ich ja sagen: Asche auf mein Haupt. Aber auch das wäre eine Aneignung, kommt die Redewendung doch ursprünglich aus einem völlig anderen Kulturkreis, wie dem Alten Testament zu entnehmen ist (2. Samuel 13,19).

Und obgleich wir sie so mir nix dir nix in unseren Sprachgebrauch aufgenommen haben – und oft sogar leicht ironisch verwenden –, reflektiert sie mitnichten den Horror, der ihr zugrunde liegt. Nachdem nämlich Amnon, der Sohn König Davids, seine eigene Schwester vergewaltigt hatte, warf diese Asche auf ihr Haupt, zerriss ihr Kleid und lief schreiend davon. Liebe Cancel-Culture-Eiferer, bitte dringend einschreiten!

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort