Anderer Meinung? Halt's Maul!
Unsere Woche · Eine Katastrophe wie zur dunkelsten Zeit der Nazi-Schergen wiederholt sich nicht. Dafür sind wir zu weltoffen, respektieren andere Anschauungen. Das hat sich eingebrannt.
Schön wär's, wenn ich dem Glauben schenken könnte. Aber ich kann es nicht. Meine Skepsis ist hartnäckig. Weil ich täglich mit derart heftigen Reaktionen auf Meinungen konfrontiert werde, die mir in ihrer Bösartigkeit Angst einjagen. Zudem macht mich die Gleichgültigkeit vieler wütend, die sich nicht im Geringsten darum scheren, was sich um sie herum zusammenbraut. Was geht's mich an? So schlimm wird's schon nicht werden.
Mich entsetzt, wie Menschen auf Andersdenkende reagieren. Sie mit abgrundtiefer Verachtung beschimpfen, bedrohen, sogar das rasche Ableben jener regelrecht herbeiflehen, die nicht ihrer Auffassung sind. Diese Hasserfüllten schrecken nicht davor zurück, Morddrohungen lüstern öffentlich zur Schau zu stellen. Was früher nur von gewalttätigen Randgruppen an Intoleranz erwartet wurde, hat die gesellschaftliche Mitte erreicht. Im Gewande des Wutbürgers, der schnaubend geifert, brutal um sich schlägt. Dieses zu verachtende Verhalten zu rechtfertigen versucht, um seine ach so gefährdeten Interessen zu bewahren. Er begreift dies als legitimes Mittel sozialen Ungehorsams. Seitdem darf der Provokateur bei jeder noch so kleinen Meinungsverschiedenheit jeden niederbrüllen, der ihm mit seiner Denke in die Quere gerät. Er faucht via Internet mit angriffslustigen Großbuchstaben, gefolgt von in Soldatenmanier aneinandergereihten Ausrufe-Brüll-Zeichen. Oder lautstark in der realen Welt von Angesicht zu Angesicht. Und wenn das alles nicht fruchtet, muss der Gegner halt die Faust als brachiale Argumentationshilfe fürchten. Selbst schuld.
Just dieser ordnungsliebende Bürger, der für sich Meinungsfreiheit einfordert, ist schnell zur Stelle, wenn's darum geht, anderen den Mund zu verbieten. Denen Prügel anzudrohen, die anders denken. Der im Internet unliebsame Kommentare löscht, weil sie ihm nicht in den Kram passen. Gleichzeitig von Zensur faselt, wenn nicht ausschließlich das veröffentlicht wird, was ihm beliebt. Statt Meinungsvielfalt fordert er den starken Mann, der ihm in ihrem Sinne und allen Ungläubigen die Marschrichtung vorgibt. Gleichzeitig schimpft er auf totalitäre Regime, in denen Meinungsfreiheit nicht zählt, Kritiker mundtot gemacht werden. Dagegen müsste mal was unternommen werden.
Erstaunlicherweise finden sich in diesen Reihen viele grauhaarige Gestalten älteren Semesters, die eigentlich wissen müssten, was es bedeutet, unterdrückt, in staatlicher Willkür zu leben. Nicht nur die junge Generation braucht Mahnmale wie die in dieser Woche aufgestellte Stele an der Stelle, wo Braunhemden 1938 die St. Wendeler Synagoge niederbrannten. Der Beginn blutrünstigster Verfolgung. Ja, ich fürchte, dass dies heute wieder möglich ist, wenn wir unsere Freiheiten nicht verteidigen. Gegen die perfide Annahme: Was nicht in meine Weltanschauung passt, muss verdrängt, muss vernichtet werden. Egal, ob es mich berührt oder nicht. Wer anderer Meinung ist, kriegt's Maul gestopft.