Missbrauch in Kirche Mutmaßliches Missbrauchsopfer aus Freisen erhebt im Fernsehen schwere Vorwürfe gegen Bischöfe

Freisen/Mainz · „Was wusste die Kirche über das Grauen, das sich in ihren eigenen Reihen abgespielt hat?“ Die zentrale Frage, die so viele Menschen fassungslos zurücklässt. Nicht nur Gläubige, sondern in erster Linie die Opfer sexualisierter Gewalt hinter Kirchenmauern. Ein mutmaßlich Leidtragender kam jetzt im Fernsehen zu Wort: Timo Ranzenberger, der bis heute unter den Folgen leidet.

Missbrauch in katholischer Kirche: Betroffener aus Freisen erhebt Vorwürfe im TV
Foto: SWR/Screenshot Matthias Zimmermann (hgn)

Die Wut bei den Mitgliedern der katholischen Kirche scheint groß. Denn nach Angaben des Südwestrundfunks (SWR) zählte das Bistum in der Region Trier im Januar an die 500 Austritte. Viele führen dies auf den Skandal um ungeklärte und vertuschte Missbrauchsfälle zurück, der die Institution erschüttert. Seit der Veröffentlichung eines unabhängigen Gutachtens durch eine Münchner Anwaltskanzlei werden zudem hohe Würdenträger schwer belastet. Darunter der ehemalige Trierer Bischof und heutige Kardinal der Diözese München und Freising, Reinhard Marx. In dieser Studie werden knapp 500 Fälle und rund 250 Täter aufgeführt.

Schwere Vorwürfe an Marx in seiner Zeit als Trierer Bischof

In diese reiht sich der Fall des mutmaßlichen Missbrauchsopfers Timo Ranzenberger ein. Mehrfach hatte er schon Marx, der in seiner Amtszeit im Bistum Trier auch für den Großteil der saarländischen Pfarreien verantwortlich war, hart kritisiert, nichts gegen die Missbrauchsvorwürfe unternommen zu haben. Viele Täter wurden bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen. Bei einigen wird es auch keine juristische Aufarbeiten von Staats wegen mehr geben, weil die Fälle verjährt sind.

Das schließe heute jedoch eine Aufarbeitung der ungesühnten Übergriffe auf Kinder und Jugendliche nicht aus. Auch um junge Katholiken in der Obhut kirchlicher Mitarbeiter künftig vor solchen Gräuel zu schützen.

Erzbischof Marx entschuldigte sich zwar diese Woche und wiederholte, „dass die größte Schuld darin besteht, die Betroffenen übersehen zu haben. Das ist unverzeihlich.“  Es habe kein wirkliches Interesse an deren Schicksal und Leid gegeben.

Doch wie bereits im Gespräch mit der Saarbrücker Zeitung gibt Ranzenberger nicht mehr viel auf diese Äußerungen. Er glaube nicht daran, dass die Kirche den Willen hat aufzuklären, wie er jetzt im Politmagazin „Zur Sache“ des SWR-Fernsehens Rheinland-Pfalz wiederholte. „Eine Täterorganisation kann schlecht gegen sich selbst ermitteln.“ Denn dann müssten Bischöfe, die verantwortlich gewesen seien, zugeben, „dass sie was verbockt haben, selbst Mist gebaut haben“. Ein Täter werde sich wohl schlecht selbst anklagen, ist Ranzenberger überzeugt.

Ranzenberger spricht abermals von Vertuschung

Erschwerend kommt hinzu: Nach den Hinweisen seitens der Staatsanwaltschaft ans Bistum in Trier sei Ranzenberger noch nicht einmal angehört worden. Darum komme die Entschuldigung jetzt zu spät. Das mutmaßliche Missbrauchsopfer aus dem Saarland in dem TV-Beitrag vom Donnerstag, 27. Januar: „Dieses Ignorieren: Man hat die Hinweise, man kann was tun, aber man tut nichts – in meinen Augen ist das Vertuschung.“ Er sei damals nicht gefragt worden, obwohl sein Fall bekannt gewesen sei. Er hätte alle seine Vorwürfe wiederholt. Timo Ranzenberger ist überzeugt: „Dann wäre er jetzt bestimmt kein Pfarrer mehr.“ Dass niemand vom Bistum auf ihn zugekommen sei, „das finde ich schlimm“.

Rückblick: Timo Ranzenberger soll als 15-jähriger Messdiener in den 90er-Jahren von einem Pfarrer in Freisen mehrfach missbraucht worden sein. Immer wieder  habe sich der Priester im Pfarrhaus an ihm vergangen und ihn letztlich im Pfarrgarten mit Alkohol abgefüllt. Im Gästezimmer soll er den Jugendlichen dann missbraucht haben.

2006 zeigte das mutmaßliche Opfer den Geistlichen an.  Dieser soll vieles vor der Polizei zugegeben haben. Gegenüber seinem Dienstherrn habe er das Ganze jedoch geleugnet.  Der Pastor blieb in Amt und Würden. Ranzenbergers Fall ist juristisch verjährt. Der heute 38-Jährige macht dem früheren Trierer Bischof schwere Vorwürfe, damals nichts unternommen zu haben, um Opfer zu schützen. Vielmehr habe es Einmischungsversuche seitens der Diözese bei den staatlichen Ermittlungsbehörden gegeben. Erst 2015 – nach weiteren Missbrauchsvorwürfen – beurlaubte die Diözese den Freisener Pfarrer. Ein neuerliches Rücktrittsersuchen an den Papst schloss Marx diese Woche aus.

Auch Papst Benedikt XVI. in der Kritik

Das aktuelle Gutachten führt auch Vorwürfe gegen Josef Ratzinger auf. Als Marx‘ Vorgänger habe der spätere Papst Benedikt XVI. an Sitzungen zu einem einschlägig vorbestraften Priester teilgenommen. Danach sei der Betroffene weiter beschäftigt und sogar in der Jugendarbeit eingesetzt worden. Er verneinte gegenüber den Experten der beauftragten Kanzlei eine Teilnahme. Dann aber gab er es nach der Veröffentlichung doch zu.

Mit diesem Hintergrund geht Timo Ranzenberger nicht davon aus, dass die Kirche aus eigenen Stücken die Fälle aufklärt. Eine staatliche Kommission müsse dies in die Hand nehmen. So bestehen auch bei Politikern Zweifel am Willen einer systematischen Aufklärung.

Unterdessen sagte der heutige Trierer Bischof Stephan Ackermann dem SWR, dass es bislang nicht möglich sei, solch eine Kommission mit weitreichenden Befugnissen Johannes-Wilhelm Rörig, dem unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, zu unterstellen. Aber: „Wenn sich die Gesetzeslage ändert, dann wären wir ja auch bereit, in diesem Sinne Rechenschaft zu geben.“ Die staatliche Hilfe würde „mehr die Wahrheit ans Licht bringen“.

Kirchenrechtler plädiert für staatliche Kommission

Sogar ein katholischer Kirchenrechtler befürwortet während der Sendung eine staatliche Aufklärung. Professor Thomas Schüller: „Ich plädiere schon länger dafür, dass die Aufarbeitung nicht in kirchlicher Verantwortung geschieht, sondern [...] von unabhängigen Wahrheitsfindungskommissionen betrieben wird.“ Beispiele dazu gebe es nach ähnlichen Missbrauchsfällen in Australien und Südafrika. Dieses Gremium würde sich nicht nur denen in der Kirche annehmen. Die Staatsanwaltschaft untersuche sie dann. Bei Hinweisen sollten deutsche Ermittlungsbehörden mit richterlichem Bescheid nicht vor Beschlagnahmung und Hausdurchsuchung zurückscheuen, forderte Schüller

Wenn die Aufklärung nicht voranschreitet, prophezeit Ranzenberger:  „Die Austrittszahlen zeigen das mittlerweile: Die Kirche wird untergehen.“

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