Senioren-Yoga in Saarbrücken Nur für Ältere: Yoga mit Anfassen

Saarbrücken · „Es geht immer noch viel mehr, als man denkt“: Wie die 29-jährige Sinah Müller Seniorinnen in Saarbrücken ein inneres Lächeln schenkt.

Reportage der Woche: Yogakurs für Senioren
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Reportage der Woche: Yogakurs für Senioren

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Foto: Christian Hell

Marco Baronsky hat seiner hochbetagten Mutter mal was anderes zum Geburtstag geschenkt, er richtete einen Appell an seine Geschwister: So oft wie möglich bei Mama vorbeifahren und sie einfach nur umarmen! Baronsky, der in Saarbrücken das Fitnessstudio Gerofit nur für Senioren führt, ist fest von der positiven Wirkmacht von Berührungen überzeugt. Deshalb hat er auch Sinah Müller kontaktiert. Unter „Yogarei“ fand er die 29-Jährige im Internet. Wer Sinah begegnet, begreift sehr schnell, was ihre besondere Qualität ausmacht: ihre frische, klare Aura, und bereits auf ihrer Homepage zeigt sich, wie treffsicher und zugleich einfühlsam Sinah formulieren kann. Der Yoga-Unkundige ahnt ja gar nicht, wie viel dieser Entspannungs-Sport mit der richtigen Wortwahl zu tun hat. Oder auch mit der Stimme. Die von Sinah ist weich, wie ein zarter und zugleich kraftvoller Flügelschlag durchmisst sie den Raum, drückt alle Alltäglichkeiten zur Seite. Gerofit-Realität, adé! Sieben Frauen im Alter zwischen 67 und 85 heben ab – zu sich selbst. 60 Minuten lang knetet Sinah jeden Montagmittag zwischen 15 und 16 Uhr nicht die Muskeln, sondern die Seelen ihrer Teilnehmerinnen warm. Es ist Sinahs erster Kurs nur für ältere Menschen, er geht bereits in die zweite Runde. Geboten wird eine Stunde Wohlgefühl, Fitness ist ein Nebeneffekt. „Mir geht es ums Mentale, sonst wäre es ja Gymnastik“, sagt Sinah.

Natürlich kann sie auch über die gesundheitlichen Positiv-Effekte von Yoga referieren, über die Kräftigung der Muskeln, die Steigerung der Gehirnleistung oder die Aktivierung des Lymphsystems. Doch ihr Kurs zielt auf anderes: „Ich möchte, dass die Menschen nicht mehr nur ihre Defizite wahrnehmen, das, was ihr Körper nicht mehr kann. Sie sollen sich angenommen fühlen mit all ihren Einschränkungen und erfahren: Es geht immer noch viel mehr, als man denkt.“ Vor allem, wenn man sich für die Yogastunde nicht mehr auf die Matte herunterquälen muss, sondern für den Tänzer, den Kutscher oder den Baum – klassische Yoga-Übungen – auf dem Stuhl sitzen bleiben oder sich anlehnen kann. Auch muss keine der Frauen ihre Alltagsklamotten ablegen. „No dogma please, feel free“, so steht es auf Sinahs Homepage. Wo sie sich als ehemals „suchendes Mädchen” vorstellt, das vor rund zehn Jahren mal Luftverkehrsmanagement in Frankfurt studierte, dann Soziologie und Rhetorik in Tübingen, zwischendrin machte Sinah Praktika bei einigen Printmedien, kam in Kontakt mit Thai-Yoga. Und nun ist die in Saarbrücken Geborene wieder im Saarland angekommen, als frei arbeitende Trainerin.

 Yoga-Trainerin Sinah Müller.

Yoga-Trainerin Sinah Müller.

Foto: Christian Hell

Ihren Yogakurs nur für Ältere schätzt sie besonders. Warum? „Ich selbst bin während der Stunde im Kern mehr im Yoga, denn ich komme stärker mit mir in Kontakt“, sagt sie, und das klingt, wie alles bei ihr, nicht esoterisch-abgehoben, sondern glaubhaft. Auch berichtet Sinah von einer großen „Dankbarkeit“ der Teilnehmerinnen, eine einzigartige Erfahrung. Und: „Langsamkeit und Ruhe sind hier viel leichter zu vermitteln und werden selbstverständlicher angenommen.“ In Kursen mit Jüngeren erlebt Sinah eine leistungsorientierte Atmosphäre nach dem Motto „ Wie viel Mal bringe ich die Zehen hinters Ohr?“ Oft sei bei den Jüngeren Ungeduld zu spüren, berichtet sie, und die Entschleunigung dauere länger.

Demgegenüber herrscht im Gerofit-Kurs tatsächlich nach nur wenigen Minuten das, was Yoga will: Stille, Konzentration auf den Moment. Dabei bezeichnen sich überraschenderweise alle Kursteilnehmerinnen als nervöse Typen, denen es schwer fällt, den Motor zu drosseln. „Man neigt dazu, sich im Alter zu überfordern“, erzählt Stan (81). Da hilft es, wenn Sinah vermittelt: Halb so schlimm, wenn du es nicht schaffst, die Balance zu halten, mach’s dann gerne auch mit Festhalten. Sinah zeigt: Es gibt Alternativen zur Perfektion.

Für einige der Frauen ist Yoga eine gänzlich neue Erfahrung, alle berichten von Positiveffekten, sei es, dass bei Elisabeth (67) der Kopfschmerz verschwunden ist oder dass die Asthmatikerin Ulrike (71) mehr Luft in ihren Lungen fühlt. Überraschenderweise erwähnt keine der Frauen das, was womöglich das Ungewöhnlichste an diesem Kurs ist: Sinahs Berührungsritual. Das geht so: Bevor sie mit den Übungen startet, bewegt sich Sinah von Frau zu Frau. Das passiert während der Lockerungsphase, die die Frauen in ihr Inneres und zu ihrem Körpergefühl führt. Sie halten die Augen geschlossen. Jede bekommt ihre individuelle Umarmung. Mal schlingt Sinah die Arme ganz um den Oberkörper, mal streicht sie von hinten über die Oberarme. Sigrid (72) lächelt sofort, ja sie strahlt. Die anderen verharren ohne Regung, ernst, nach innen gekehrt. Trotzdem tut es allen gut, wie sie später versichern. Und Sinah spürt: „Die Körper werden weicher.“ Obwohl sie wisse, dass es für die 60+-Generation nicht leicht sei, Nähe zuzulassen. Oft leiden Senioren, aber nicht nur sie, unter fehlender menschlicher Nähe. Sinah sagt: „Achtsame Aufmerksamkeit von anderen und sich selbst gegenüber fehlt meiner Meinung nach generell in unserer Gesellschaft. Das ist ein Aspekt, der sich mit Yoga sehr schön verbinden lässt.“ Doch auch für Sinah ist es das erste Mal, dass sie Umarmungen in ihr Programm integriert. Körperliche Nähe lässt sich nicht im Yogatrainer-Handbuch nachschlagen. Sie weiß nur: „Eine solche Umarmung muss dauern, sie muss aufmerksam und liebevoll ausgeführt werden.“ Keine Routine-Griffe also. Was meinen die Teilnehmerinnen? Das Ganze sei „gewöhnungsbedürftig“ gewesen, hört man. „Dann stellt man fest, eine kurze Berührung tut gut“, so Lilo (81). Sigrid erlebt die Begrüßungsphase besonders intensiv: „Es kommt wie eine geballte Macht.“

 Das Begrüßungsritual gehört fest zum Kurs. Jede Teilnehmerin bekommt ihre individiuelle Umarmung von Sinah Müller.

Das Begrüßungsritual gehört fest zum Kurs. Jede Teilnehmerin bekommt ihre individiuelle Umarmung von Sinah Müller.

Foto: Christian Hell

Alle Frauen leben allein, sind überzeugte Singles, seit Jahrzehnten verwitwet, geschieden. Als besonders berührungsbedürftig beschreibt sich keine, keine spricht auf Anhieb von fehlendem Körperkontakt. Aus Scham? Anders als die heutige Ego-Generation formuliert diese Frauen-Generation Bedürfnisse und Ansprüche wohl weniger offen. Und generell ist das Thema „Hauthunger“ noch nicht in der Breite der Bevölkerung angekommen. Was heißt es, wenn 42 Prozent der deutschen Bevölkerung heute schon allein leben? Jeder Dritte dieser Singles ist älter als 64 – mit wachsender Lebenserwartung. Aber je höher das Alter, umso ausgedünnter das soziale Umfeld. Und auch die Digitalisierung nimmt Menschen ihre nahen Kontakte. Statt Händchen zu halten, wird das Handy gestreichelt. So entwickelt sich dann die „berührungslose Gesellschaft“ – Titel eines Buches von Elisabeth von Thadden.

Für die sieben Kursteilnehmerinnen steht allerdings das „Kuscheln“ beim Yoga nicht im Fokus, sondern der Kontakt mit sich selbst und die Erfahrung, dass sie selbst sich etwas Gutes tun können. Etwa mit warm geriebenen Händen eine behutsame Eigen-Gesichtsmassage durchführen. Alles wird von Sinah in einem pulsierenden Singsang angesagt: „Stellen Sie sich vor, Sie gehen federleicht durchs Leben“. Oder: „Ein goldener Faden zieht Sie nach oben.“ Sie benutzt nur positiv besetzte Formulierungen und Bilder. Das ist, als riesele warmes Öl über die Haut. Alle Frauen empfinden Sinahs „poetische“ Ausdrucksweise als besondere Qualität. „Kultiviert“ nennt das Cornelia (79) und meint: „Ich habe drei Kinder, zwei Hunde und eigentlich alles, was ich brauche. Aber hier bekomme ich zusätzliche Lebensqualität.“

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