"Sich interessieren, nicht immer blöd gucken"

Frau Neersen, Herr Neersen, was machen Sie beruflich? Sandra Neersen: Ich bin zu Hause. Ich war im dritten Lehrjahr als Bäckereifachverkäuferin, bin aber zu Hause. Beim selben Bäcker hat mein Mann auch gelernt. Mike Neersen: Da haben wir uns kennen gelernt. Ich bin aber nicht übernommen worden

 Junge Familie: Mike und Sandra Neersen mit Jasmin und Katharina (links) vor ihrem Haus in Hostenbach. Fotos: Thomas Seeber

Junge Familie: Mike und Sandra Neersen mit Jasmin und Katharina (links) vor ihrem Haus in Hostenbach. Fotos: Thomas Seeber

 Sandra Neersen ist mit beiden Kindern in schweren Rollwagen unterwegs.

Sandra Neersen ist mit beiden Kindern in schweren Rollwagen unterwegs.

 Das Bad: total verwinkelt, eng, keine Heizung.

Das Bad: total verwinkelt, eng, keine Heizung.

Frau Neersen, Herr Neersen, was machen Sie beruflich? Sandra Neersen: Ich bin zu Hause. Ich war im dritten Lehrjahr als Bäckereifachverkäuferin, bin aber zu Hause. Beim selben Bäcker hat mein Mann auch gelernt. Mike Neersen: Da haben wir uns kennen gelernt. Ich bin aber nicht übernommen worden. Jetzt bin ich Schichtarbeiter auf der Trumpf, als Leiharbeiter. Sie sind zu Hause wegen Ihrer beiden Töchter?Sandra Neersen: Ja. Jasmin ist sieben, sie hat bis zu 30 epileptische Anfälle am Tag. Deswegen hängt sie meistens an einem Monitor und hat eine Pflegekraft, 16,5 Stunden am Tag. Ansonsten mache ich das. Jasmin leidet unter dem Lennox-Gastaut-Syndrom, einer sehr schwer medikamentös einstellbaren epileptischen Erkrankung. 95 Prozent der erkrankten Kinder werden bis zu fünf Jahre, dann sterben sie, weil sie extrem anfällig für Infektionen sind. Deswegen ist Jasmin dauernd in Lebensgefahr. Sie bekommt sehr schnell ganz hohes Fieber, und die Krämpfe dauern länger, bis zu 15 Minuten. Jasmin wird hauptsächlich über eine Sonde ernährt. Und Katharina ist fünf Jahre. Auch sie leidet unter Epilepsie. Sie kann nicht gehen und nicht sprechen, und sie schreit oft einfach so, ohne Grund. Sie geht in den Kindergarten der Lebenshilfe in Saarbrücken. Sie wird geholt und gebracht - wir beide haben keinen Führerschein. Den würde ich gern machen, aber das geht im Moment nicht.Was wird Katharina nach ihrer Kindergarten-Zeit machen?Sandra Neersen: Ich hoffe, dass sie dann in die Schule für körperbehinderte Kinder geht. Also, ich hoffe das. Vielleicht ist es dann ja besser mit den Schreiattacken. Katharina kann sich halt nicht mitteilen..Und wenn nicht?Sandra Neersen: Das muss man dann sehen. Mike Neersen: Soweit haben wir noch gar nicht gedacht.Wo werden die beiden Kinder medizinisch betreut?Sandra Neersen: Im Epilepsiezentrum Kork bei Offenburg. Da waren wir mit Jasmin, und durch Zufall ist herausgekommen, dass auch Katharina krank ist. Sie war erst in der dritten Lebenswoche. Wir hatten sie mitgenommen nach Kork, und genau da bekam sie ihren ersten Anfall.Wie ist es Ihnen in dem Augenblick gegangen?Sandra Neersen: Schlecht. Die Ärzte hatten vorher gesagt, dass Katharina mit einer Wahrscheinlichkeit von 96 Prozent gesund wäre. Wir hatten damit gerechnet, dass unser zweites Kind gesund ist. Mike Neersen: Geschockt, aber was willst du machen? Man hat schon gemerkt, dass selbst die Familie erstmal etwas zurückgeschreckt ist und sich abgekapselt hat. Sie haben sich dann langsam herangetastet.Jasmin hat hier zu Hause eine Betreuung?Sandra Neersen: Ja. Jede Nacht von zehn bis morgens um acht und tagsüber von 15.30 Uhr bis um 22 Uhr ist eine Krankenschwester da. Sie hält sich nachts meistens im Wohnzimmer neben Jasmins Zimmer auf. Die Pflegekräfte wechseln natürlich, es sind zurzeit zwölf. Sie arbeiten im Schichtdienst, für einen allein wäre das nicht machbar. Also keine feste Bezugsperson für die Kinder?Sandra Neersen: Ich bestehe darauf, dass das nicht jede Tour jemand anderes ist. Also nicht jeden Tag jemand anderes. Das wäre auch für Katharina eine zu große Belastung. Sie sind nie alleine für sich?Sandra Neersen: Eigentlich nie.Mike Neersen: Privatsphäre ist gleich null. Es war schwer, sich daran zu gewöhnen. Aber irgendwann geht es dann.Sandra Neersen: Wegen der Belastung gehen ja oft auch Ehen kaputt. Es ist nicht einfach.Mike Neersen: Soll man gehen, bloß weil die Kinder krank sind, oder was? Sie haben eine Pflegekraft beantragt. Wie kamen Sie drauf?Sandra Neersen: Wir haben auf den Ämtern gefragt, aber keiner wusste, was wir tun sollten. Rein zufällig haben wir mal jemanden kennen gelernt, der mit kranken Kindern arbeitet, beim Kinderhospiz Neunkirchen. Am Anfang kamen dann Leute, die uns ehrenamtlich geholfen haben. Wie kam es zur professionellen Hilfe?Sandra Neersen: Jasmin hat vor zweieinhalb Jahren schwer abgebaut. Allein essen konnte sie ohnehin nie. Das Kinderhospiz hat uns dann geholfen, eine professionelle Betreuung zu finden. Sie haben uns auf eine Sozialstation des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes hingewiesen, die Kinder betreut. Das war der Anfang. Vorher haben wir alles selber und alleine gemacht.Mike Neersen: Wir haben nicht gewusst, wo wir uns hinwenden sollen. Sandra Neersen: Die Sozialstation hat den Antrag bei der Krankenkasse gestellt, womit auch die Probleme begannen. Die Kasse war der Meinung, ich könne das alleine machen, weil ich den ganzen Tag zu Hause wäre. Dass ich noch eine behinderte Tochter habe, spielte für sie keine Rolle. Sie wollten Geld sparen, egal ob dabei ein Kind auf der Strecke bleibt.Da haben Sie geklagt?Sandra Neersen: Ja. Mit Hilfe der Sozialstation haben wir geklagt. Über die Unterstützung waren wir wirklich sehr froh. Es kam gar nicht erst bis zur Hauptverhandlung. Nach der Anhörung entschied der Richter zum Positiven für uns. Der Richter hat über das Verhalten der Kasse gesagt, das wäre menschenverachtend. Man könnte von Glück sprechen, dass in den ersten zwei Jahren mit Jasmin nichts passiert sei. Mike Neersen: Der Richter hat gesagt, Jasmin ist ein Lebewesen, kein Gegenstand. Wann kommen Sie denn mal aus dem Haus raus?Sandra Neersen: Mein Mann fährt zur Arbeit. Kommen Sie mal allein raus, mal zum Einkaufen oder Bummeln?Sandra Neersen: Alleine ganz selten. Ich habe immer ein Kind oder beide dabei.Wann waren Sie zuletzt im Urlaub?Mike Neersen (lacht): Oh, ich glaube vor 18 Jahren. Wenn ich Urlaub habe, muss ich sowieso das Haus instand halten. Da muss viel gemacht werden. Zum Bad geht es über einen Gang, das Bad ist verwinkelt und eng, es hat keine Heizung. Die Kinder baden, geht gerade so, aber fertigmachen kann man sie da nicht. Im Winter geht es fast gar nicht. Letztes Jahr sind da die Scheiben von innen gefroren. Und irgendwann wird es wegen Katharina schwierig. Sie läuft nicht, aber ihr Zimmer ist ganz oben unter dem Dach. Wenn sie doch mal einkaufen gehen - wie machen Sie das? Ohne Auto?Sandra Neersen: Wenn keiner da ist, also manchmal hilft uns eine Nachbarin, dann nehme ich oft beide gleichzeitig mit. Zum Kinderarzt, zum Beispiel. Eine vorne, eine hinten. Das geht schon. Mike Neersen: Da wird man oft dumm angeguckt, anstatt dass einer sagt: Komm, ich fahr mit. Sandra Neersen: Mit dem Bus geht es gerade so. Weiter oben im Dorf ist eine Haltestelle. Die Busse haben Rampen für Rollstühle. Aber viele Busfahrer holen sie nicht raus. Als Mammi von zwei kranken Kindern muss ich die dann selber rausholen und wieder reinmachen. Da streiten wir uns gerade mit der KVS.Mike Neersen: Wenn die dann mal Verspätung haben, wirst du auch noch angemacht, weil es nicht so schnell geht. Wie ist das in den Geschäften?Sandra Neersen: Wenn die Gänge zu eng sind, kommt man auch mit nur einem Mädchen nicht durch. Pech gehabt. Man muss dann draußen bleiben. Oft wird man angeschaut, aber da ist einfach keine Hilfsbereitschaft da. Klar, manchmal hilft schon jemand. Aber ich höre oft: Guck mal, die hat ja zwei behinderte Kinder! Wie sie über einen reden! Aber unsere Kinder sind jetzt so, wie sie sind, und wir müssen das Beste draus machen. Ich würde sie auch nicht mehr hergeben, um kein Geld der Welt. Ein Pflegeheim kommt für uns auch nicht infrage.Was würden Sie sich wünschen?Neersen: Einmal, dass man wüsste, wo man erfährt, wer einem helfen kann. Wir haben das durch Zufall und ziemlich spät erfahren. Und dann natürlich mehr Verständnis, hilfsbereite Menschen.Mike: Dass die Leute nicht nur schauen, sondern auch mal fragen. Sich interessieren, nicht immer blöd gucken. Aber manche trauen sich nicht.Wenn ich Sie treffen würde, fremd, und sagte: mit zwei behinderten Kindern im Geschäft, das ist bestimmt nicht einfach. Das würde sie nicht stören?Mike Neersen: Dann würde ich denken: wenigstens einer, der sich dafür interessiert. Und nicht einer von denen, die stehen bleiben und sich umdrehen - wie im Zirkus.Mike Neersen: Kinder interessieren sich ja. Aber was denken Sie, wie das ist, wenn die Eltern zu ihren Kindern sagen: Kommt schnell, wir gehen - und dann ziehen sie die Kinder weg. Das ist uns schon öfter passiert. Wir fühlen uns dann wie die Deppen.Sandra Neersen: Die Gesellschaft will, dass man Kinder bekommt, aber wenn sie krank sind, interessiert sich keiner für sie. Man bekommt die Elternzeit - aber was ist danach? Man muss um alles kämpfen.Mike Neersen: Manche helfen auch. Uns ist fast mal die Decke hier auf den Kopf gefallen. Ein Betrieb musste das richten. Der ist uns sehr entgegengekommen mit dem Preis. Die Kirchengemeinde hat uns da auch geholfen. Aber was sollen wir mit dem Bad machen? Dafür reicht es nicht.Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass er bewundert, was Sie da jeden Tag tun?Sandra Neersen: Unsere Krankenschwestern, die die Kinder betreuen.Sonst jemand?Sandra Neersen: Nein. Wir haben einen Nachbarn, der sehr freundlich ist. Aber sonst niemand. "Wir hatten damit gerechnet, dass unser zweites Kind gesund ist."Sandra Neersen"Letztes Jahr sind da die Scheiben von innen gefroren."Mike Neersen

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