Seltenes Jubiläum „Ragt über den lokalen Horizont hinaus“

Seit 50 Jahren ist Leo Krämer aus Püttlingen der Leiter des Philharmonischen Chors an der Saar. Qualität lockt Qualität an, sagt er.

 Leo Krämer in seinem Element

Leo Krämer in seinem Element

Foto: Vladimir V. Postnov/Philharmonischer Chor/Vladimir V. Postnov

Herr Professor Krämer, was genau bedeutet das Attribut „philharmonisch“ im Namen des Chores?

Prof. Leo Krämer Das ist ein Signal, dass sich dieses Ensemble eine enorme Bandbreite vorgenommen hat. Es ist die ganze Bandbreite vom schlichten A-Cappella-Lied des 19. Jahrhunderts über die gesamte Breite der oratorischen Musikliteratur bis hin zur symphonischen Literatur, Beethovens Neunte zum Beispiel oder Mahlers Zweite. Als wir anfingen, war uns wichtig, die Bandbreite dessen, was Chormusik bedeutet.

Wie fing es denn an in Hülzweiler vor 50 Jahren?

Krämer Damals leitete Robert Leonardy die Chorgemeinschaft Cäcilia Hülzweiler. Er stammte ja aus Hülzweiler und war in diesen Chor hineingewachsen. Als er nach Köln an die Hochschule wechselte, stellte sich die Frage einer Nachfolge. Ich war damals Organist und Chorleiter in Püttlingen. Wir führten das Mozart-Requiem auf. Danach stellten sich zwei Herren bei mir vor aus dem Vorstand der Chorgemeinschaft Cäcilia. Sie seien von dem Konzert sehr angetan und fragten, ob ich nicht die Nachfolge von Robert Leonardy antreten wolle. So ganz schlicht und einfach war das.

Was kann dazu motivieren, Woche für Woche zwischen Speyer und Hülzweiler zu pendeln? Ihr Beruf war ja nun anspruchsvoll genug.

Krämer Die bis zum heutigen Tage unglaubliche Begeisterung, die dieses Ensemble auszeichnet. Von 1969 bis heute ergab sich natürlich eine enorme Fluktuation, aber der Biss, das Beste zu geben, nicht aufzuhören, sich immer wieder neu zu definieren, das ist geblieben. Wir sprachen eben vom Begriff philharmonisch. Der Chor hat die Literatur noch enorm erweitern können um den gesamten Bereich der großen Oratorien wie die Bachsche Passion, Mendelssohns Oratorien. Orff, Carmina Burana.

Offenkundig haben Sie sich mit diesen Projekten nie überhoben. Das braucht mehr als die Begeisterungsfähigkeit. Wie kommt es dazu, dass sich in Hülzweiler ein so anerkanntes Ensemble kristallisieren kann?

Krämer Die Keimzelle war das, was man früher, ganz weit zurück, hatte, ich nehme Johann Sebastian Bach in Leipzig als Beispiel: einen Kirchenmusiker vor Ort, in Hülzweiler war das die Dynastie der Schäfer, die vor Ort ein musikalisches Leben begründete. Eine Gesangsschule, eine musikalisch-theoretische Ausbildung, es war beispielgebend und einmalig für das Saarland. Bis heute gibt es ein paar Leute, die das als Kinder durchlaufen haben. Robert Leonardy hat das zum Beispiel auch miterlebt, darüber reden wir heute noch. Es war ein Phänomen. Der Chor hatte damals eine Stärke von 150 Personen, die alles nicht nur sangesfreudig, sondern auch sängerisch ausgebildet waren. Damals gab es gleich drei Männerchöre, die alle auf dieser Ausbildung basierten.

Diesen Zustand gibt es ja nicht mehr.

Krämer Ja, aber interessierte Kreise zieht das weiter an. Von damals ist das noch eine knappe Handvoll. Alles andere ist verjüngt, und das in einer Weise, dass man nur den Hut ziehen kann. Ich kann mich glücklich preisen, dass wir über ein solches qualifiziertes Potenzial verfügen. Die Sänger kommen inzwischen aus dem ganzen Saarland. Dazu kommen Chor- und Instrumentalmusiker, die ich in meiner Zeit als Domkapellmeister und Domorganist in Speyer rekrutieren konnte. Also nicht zuletzt ein wunderbares pfälzisch-saarländisches Unternehmen.

Qualität zieht Qualität an?

Krämer Auf den Punkt, so ist es. Ohne diese Anziehungskraft der Qualität würde ein Chor wie dieser morgen aufhören zu existieren.

Wo liegt Ihr persönlicher Anteil am Erfolg?

Krämer Natürlich steht und fällt das mit dem, der da vorne dran steht, der für das Niveau der Mannschaft geradesteht und es auch einfordert. Dann finden sich qualifizierte Leute, die sagen: Das, was die da machen, ragt weit über den lokalen Horizont hinaus. Das ist eine lohnende Beschäftigung. Ich hoffe, dass das für alle Beteiligten, auch für mich, weiterhin möglich ist.

Es soll also weitergehen?

Krämer Ja. Ich bin da guten Mutes.

Ihr eigener Horizont ist ziemlich weit, wenn man an Ihr Engagement in Russland denkt. Wie kam es dazu?

Krämer Das hat mich eigentlich von Kindesbeinen an interessiert und bewegt. Ich bin als Kind in Püttlingen in einen Chor mit einem enormen Repertoire hineingewachsen, dem mein Vater als Präsident angehörte. Als Student aber erlebte ich, dass das Repertoire im Saarland und überhaupt in der jungen Bundesrepublik räumlich sehr begrenzt war. Musikzentren wie Leipzig oder Dresden waren für uns unerreichbar. Die ganze musikalische Welt ebenso. Meine erste Begegnung mit dieser Welt war in Berlin. Ich gewann dort als Student den Mendelssohn-Preis und wurde in die DDR zum Bach-Wettbewerb in Leipzig eingeladen. Dort lernte ich diese europäische Dimension der Musik kennen. Das hat mich enorm interessiert.

Das blieb auch so, auch nachdem Sie Domkapellmeister in Speyer wurden?

Krämer Ja. Ich kam damals auch gleich an die Musikhochschule Mannheim. In meiner Orgel-Klasse waren auch ausländische Stipendiaten, darunter Finnen. Über sie kam ich als Dozent zu Sommerkursen in Finnland. Dort war die gesamte musikalische Elite des damaligen Ostblocks versammelt. Bei diesen Meisterkursen entwickelten sich Kontakte und erste Einladungen nach Moskau. So fing das an. Meine erste Tournee dort durch Städte wie Moskau und St. Petersburg, Kiew, Minsk, die baltischen Republiken. Das war kurz vor Gorbatschow. All das entsprach meinen Intentionen von frühester Kindheit an. Dieses schmerzliche Vermissen dieser Seite Europas.

Woher die Energie in all diesen Jahrzehnten bis heute?

Krämer Ein Musiker geht nie in Rente! Toi, toi, toi – und jeden Morgen ein Dankgebet.

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