Zeitzeugenberichte „Wir sind den Deutschen nicht böse“

Saarwellingen · Als Kinder mussten sie miterleben, wie die Nazis ihre Heimat besetzten und die Juden verfolgten. Zwei Zeitzeuginnen aus der Ukraine berichten.

 Ludmila Kleiner (links) und Malvina Nyzhnykova berichten den Schülern der Gemeinschaftsschule Saarwellingen von den Erlebnissen, die sie als Kinder im Zweiten Weltkrieg im besetzten Odessa hatten.

Ludmila Kleiner (links) und Malvina Nyzhnykova berichten den Schülern der Gemeinschaftsschule Saarwellingen von den Erlebnissen, die sie als Kinder im Zweiten Weltkrieg im besetzten Odessa hatten.

Foto: Daniel Bonenberger

„Die Berichte der beiden Frauen haben mich sehr berührt, es war unfassbar emotional“, sagte die Zehntklässlerin Michelle Jenal, nachdem sie den Erfahrungen von Ludmila Kleiner (81) und Malvina Nyzhnykova (79) gelauscht hatte. Die Halbjüdinnen aus Odessa in der Ukraine waren auf Einladung der Katholischen Erwachsenenbildung Dillingen in Deutschland zu Besuch. Auch drei saarländische Schulen standen auf ihrem Reiseprogramm, an denen sie Schülern aus ihrer Kindheit im von den Nationalsozialisten besetzten Odessa und im Zweiten Weltkrieg erzählten.

Die Zeitzeuginnen sprachen auch vor zwei zehnten Klassen der Gemeinschaftsschule in Saarwellingen: „Die Schüler sollen noch die Möglichkeit bekommen, selbst mit Menschen zu reden, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben – lange Zeit bleibt dafür ja nicht mehr“, betonte die Leiterin der Schule „An der Waldwies“, Klaudia Hiry-Landry.

Die beiden Ukrainerinnen, die kein Deutsch sprechen, hatten zwei Dolmetscher an ihrer Seite, Günter Weiß und Ludmilla Haus. Die Verzögerungen, die durch die Übersetzungen entstanden, machten die Schilderungen jedoch nicht weniger lebhaft und eindringlich. Vielmehr hatten die beeindruckt wirkenden Schüler mehr Zeit, dass Geschilderte zu verarbeiten.

Kleiner, die für ihre 81 Jahre noch außerordentlich agil wirkte und auch ihren Stuhl kaum benutzte, erzählte von der Ankunft der deutschen Besatzer im ukrainischen Odessa im Jahr 1941: „Wir dachten nicht, dass Menschen anderen Menschen so etwas antun können.“ Sie erinnerte sich an die Listen, in die sich die Juden eintragen lassen mussten und an die Ghettos, in die sie gebracht wurden: „Dabei hätten wir noch mit einem Schiff fliehen können, bevor die Deutschen kamen – wir haben aber nicht gedacht, dass der Krieg so schlimm wird“, erinnerte sich Kleiner. Die Verfolgung der Juden habe sie nur überlebt, glaubt sie, weil sie einen falschen Namen angab, um nicht als Jüdin enttarnt zu werden.

Ihr Vater hatte weniger Glück und musste aus der Stadt fliehen, seine Rettung war ein leerer Wasserkanister auf einem Lkw, in dem er sich versteckte. Er floh in ein Labyrinth aus Katakomben außerhalb Odessas. „Ich selbst habe mich bei Bekannten in einem Keller versteckt, wenn ich nach oben kam, durfte ich mich nur auf allen Vieren bewegen, um nicht entdeckt zu werden.“ Für sie als Kind am schwersten zu ertragen war, dass ihre Mutter nur selten aus dem Ghetto raus konnte und sie damit von beiden Eltern getrennt war: „Das war das Schlimmste für mich – ich wusste ja auch nicht, wann das alles endet.“

Nyzhnykova, die bei Kriegsausbruch erst ein Jahr alt war, kennt vor allem Geschichten von ihrer Mutter: „Als ich 16 war, habe ich einen Mann im Park gesehen und dachte, es ist mein Papa, weil er genauso ausgesehen hat wie auf den Fotos.“ Sie sei nach Hause gerannt und habe ihre Mutter gefragt, warum Papa nicht heimkomme. Die Antwort: Er sei im Himmel. Die Mutter habe ihr dann erzählt, dass ihr Vater vor ihrem Haus erschossen und in einem Massengrab verscharrt wurde.

Die Schüler, sichtlich nachdenklich und gerührt, wollten genauer wissen, wie sich ihr Leben nach dem Krieg verändert hat und ob sie glücklich werden konnten, was die beiden Halbjüdinnen bestätigten: „Wir sind den Deutschen nicht böse, wir haben ein schönes Leben gelebt“, waren sich beide einig. Und Kleiner fügte hinzu: „Ihr könnt stolz sein auf euer Land, Deutschland ist wie ein Phönix aus der Asche auferstanden und erblüht.“

Der 14-jährige Schüler Hendrik Höhl aus Saarwellingen war tief bewegt und schockiert zugleich von den Erzählungen: „Man liest sowas normal ja nur in Büchern, wenn ich mir überlege, dass mein Uropa damals auf der anderen Seite gestanden haben könnte, finde ich das krass.“

Die Zehntklässlerin Michelle Jenal fand besonders, dass man sich sehr gut in die beiden Frauen hineinversetzen könne: „Man sollte genau zuhören und das Gehörte später seinen Kindern weitergeben – dass die beiden so offen darüber reden ist sehr mutig.“

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