Stadtgeschichte Die Wahrheit hinterm Saarlouiser Wahrzeichen

Saarlouis · Die beiden Kanonen vor dem Deutschen Tor in Saarlouis sind gar nicht, was sie scheinen: Preußische Kanonen vor einem preußischen Festungstor. Frank Morgenthal fand jetzt heraus, woher sie wirklich kommen. Und mit welcher Tragödie sie womöglich verbunden sind.

 Die beiden Kanonen rechts und links des Deutschen Tores sind zu einem Wahrzeichen der Stadt geworden. Aber es sind keine preußischen Kanonen, wie in der Regel erzählt wurde.

Die beiden Kanonen rechts und links des Deutschen Tores sind zu einem Wahrzeichen der Stadt geworden. Aber es sind keine preußischen Kanonen, wie in der Regel erzählt wurde.

Foto: Thomas Seeber

Die vor allem bei Touristen beliebten beiden Kanonen vor dem Deutschen Tor in Saarlouis sind offenbar nicht das, als was sie gern dargestellt werden. Preußische Kanonen vom Typ C 61 seien das, aus dem deutsch-französischen Krieg 1870/71, gebaut in den 1860er Jahren. Wie sie nach Saarlouis kamen, kann niemand erklären. Die preußische Garnisonsstadt spielte in dem Krieg auch keine große Rolle. Jetzt zeichnet sich ab: Es sind gar keine Preußen, die da symbolisch vor Saarlouis Wache halten. Aber die Kanonen haben mit der Geschichte von Saarlouis womöglich viel mehr zu tun als gedacht.

Dr. Frank Morgenthal, ein Arzt, zugleich Motor des Traditionsvereins der Dreißiger, die die preußische Saarlouiser Garnison darstellen, ist schon länger argwöhnisch. Auf dem Kanonenrohr fehle der sonst üblich Adler mit dem Königsmonogramm, fehle auch ein Schriftzug wie „Pro Gloria et Patria“, sagt er. Vor allem aber habe das Rohr einen Durchmesser von acht Zentimetern, die preußische C 61 aber habe neun Zentimeter. „Die Mündung der Preußen-Kanone ist vorne geschwungen, das Saarlouiser Rohr ist glatt und hat eine Art Kimme“, sagt Morgenthal. „Als ich das alles sah, wuchsen meine Zweifel an der preußischen Herkunft.“

 Fast identisch: Frank Morgenthal mit der belgischen M 1862. Aus dieser Baureihe stammen auch die Saarlouiser Kanonen.

Fast identisch: Frank Morgenthal mit der belgischen M 1862. Aus dieser Baureihe stammen auch die Saarlouiser Kanonen.

Foto: Frank Morgenthal

Es sei nicht leicht gewesen, andere C 61 zum Vergleich zu finden, erzählt er. „Eine steht auf der Reichsburg in Cochem, zwei stehen auf dem Schlossplatz in Siegburg. Als ich die sah, war mir klar: In Saarlouis stehen auf keinen Fall C 61er.“

Über die Lafette des Geschützes fand Morgenthal schließlich ins Musée Royal de l’Armee in Brüssel. Denn die Saarlouiser Lafetten war keine preußischen. Aber die Belgier hatten solche. Also auf nach Brüssel, im Wissen, dass die dortige Artillerie-Abteilung bis unters Dach „übervoll ist mit Originalstücken“, Und da stand sie, mitten unter vielen anderen Kanonen: eine Schwester der Saarlouiser Kanone. In Wahrheit also eine belgische Feldkanone M 1862, von den Belgiern geführt von 1862 bis 1901. „Eindeutig.“ Da die Belgier am 70er Krieg nicht beteiligt waren, konnten die Kanonen als Beutestücke erst später nach Saarlouis gekommen sein, zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Das Deutsche Reich hatte im August 1914 Belgien überrannt.

 Acht Zentimeter Durchmesser hat das Saarlouiser Rohr. Preußische Kanonen aber wiesen neun Zentimeter auf.

Acht Zentimeter Durchmesser hat das Saarlouiser Rohr. Preußische Kanonen aber wiesen neun Zentimeter auf.

Foto: Thomas Seeber

Die Saarlouiser Kanonen tragen sogar Nummern (71 und 78). „Eigentlich“, erklärt Morgenthal, „müsste sich noch klären lassen, wo sie mal eingesetzt waren.“ Das alles erscheint nach Morgenthals Recherchen als absolut sicher.

 Das ist das Rohr der belgischen Kanone M 1862 in Brüssel. Es hat dieselbe Mündung wie das der Saarlouiser Kanonen.

Das ist das Rohr der belgischen Kanone M 1862 in Brüssel. Es hat dieselbe Mündung wie das der Saarlouiser Kanonen.

Foto: Frank Morgenthal

Wieso aber wurden die Kanonen nach Saarlouis gebracht? Da beginnt die Spekulation. Sie klingt ziemlich plausibel. Es war belgische Beutemunition, Schwarzpulver, die am 14. September 1916 im Artilleriedepot der Trainkaserne, hinter dem heutigen Max-Planck-Gymnasium in Saarlouis, explodierte. Es war das wohl schlimmste Unglück in Saarlouis überhaupt: 96 Tote, die meisten von ihnen preußische Soldaten. Fast alle sind auf dem Alten Friedhof in Saarlouis begraben.

Schwarzpulver, eingelagert wozu? Munition für die eigenen Kanonen war das nicht, deren Kaliber waren ja 90 Millimeter. Und sowieso, sagt Morgenthal, waren „diese Schwarzpulvergranaten 1916 schon uralt und wurden eigentlich nicht mehr benutzt“. Sie passten aber zu den belgischen M 1862. Vielleicht seien Kanonen und Munition anfangs des Krieges mitgenommen worden, um sie doch zu benutzen. Im Kriegsverlauf habe sich aber schnell herausgestellt, dass solche Geschütze für die moderne Kriegsführung unbrauchbar waren. Dann wäre Materialverwertung übrig geblieben, und zu dem Zweck seien Geräte und Pulver gleichzeitig nach Saarlouis gekommen, vermutet Morgenthal.

 Postkarte: Das Kriegerdenkmal in Saarlouis wurde seit den 20er Jahren von den beiden Kanonen flankiert. Der Sockel steht noch. Das Gebäude ist heute das Verwaltungsgericht nahe der Agentur für Arbeit.

Postkarte: Das Kriegerdenkmal in Saarlouis wurde seit den 20er Jahren von den beiden Kanonen flankiert. Der Sockel steht noch. Das Gebäude ist heute das Verwaltungsgericht nahe der Agentur für Arbeit.

Foto: Morgenthal/Repro Morgenthal

„Bei der Entsorgung des Schwarzpulvers kam es zu dem Unglück“, mutmaßt er. Zwei Kanonen blieben erhalten, warum, weiß niemand. Sie tauchen später wieder auf: als Dekoration eines Denkmals für den Krieg 1870/71, das am heutigen Arbeitsamtskreisel in Saarlouis stand.

Den Sockel sieht man noch. Laut Morgenthal tauchen sie erst auf Fotos Mitte der 1920er Jahre an der Seite des Sockels auf. Von dort kamen sie vermutlich 1945, nach Ende des Zweiten Weltkrieges, weg.

Jemand muss sie in die Saar geworfen haben. Denn dort fischte man sie beim Saardurchstich wieder raus, die zweite Kanone erst in den 70er Jahren. Danach erst stellte die Stadt sie vor dem Deutschen Tor auf, wo sie zu einem Wahrzeichen von Saarlouis wurden.

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