„Wer hier drüber geht, ist willkommen“

Eine Schule braucht Rituale, sagt der Leiter des Max-Planck-Gymnasiums Saarlouis (MPG), Dr. Jürgen Hannig. Wie die „Neun-Uhr-Nachrichten“, über die Hannig, 68, anlässlich seines Wechsels in den Ruhestand mit SZ-Redakteur Johannes Werres spricht. Das MPG ist das größte Gymnasium im Saarland.

 Jetzt erstmal nach Neuseeland: Jürgen Hannig. Foto: Thomas Seeber

Jetzt erstmal nach Neuseeland: Jürgen Hannig. Foto: Thomas Seeber

Foto: Thomas Seeber

Herr Dr. Hannig, haben Sie mal Harry Potter gelesen?

Hannig: Interessehalber, ja. Ich wollte wissen, was meine Kinder und Enkel lesen. Ich muss Ihnen aber ehrlich sagen, ich habe nur reingelesen, nicht zu Ende gelesen.

Einige MPG-Jahrgänge nannten Sie "Dumbledore", so heißt der Direktor des Zauberer-Internats der Harry-Potter-Romane. Sagt Ihnen das etwas?

Hannig: In der Buchfassung ist Dumbledore ja freundlich, humorvoll, wenn auch ein bisschen verrückt. Er ist jemand, der mit den Schülern umgehen kann und eine gewisse Autorität verkörpert, aber nicht als böses Schreckgespenst die Schule regiert. Damit kann ich gut leben.

Hat sich der Charakter der Schüler am MPG verändert in den vergangenen 25 Jahren?

Hannig: Die Folgen der gesellschaftlichen Veränderungen, von G 8 und dem verstärkten Leistungsdruck, sind natürlich spürbar. Als ich hierher kam, haben sich die Schüler in der Abi-Zeitung dargestellt als aufmüpfig, als Bürger- und Lehrerschreck. Das war 1990. Abiturzeitungen heute sind Selbstdarstellungen in Hochglanzform, professionell gemacht, es geht darum, zu zeigen: Wer bin ich und was will ich. Die Selbstironisierung, die früher mal drinsteckte, das fehlt oft. Natürlich sind das jetzt Pauschalaussagen.

Das Profil des MPG sah vor 25 Jahren anders aus als heute.

Hannig: Ja. Damals hat man, spöttisch gemeint, öfter gehört: Schicken wir das Kind auf das MPG oder direkt auf das Gymnasium? Das MPG begann als Aufbaugymnasium, man hatte den Schwerpunkt auf Naturwissenschaften gelegt. Dabei sind wir geblieben, um den Profilen der beiden anderen Gymnasien in Saarlouis keine Konkurrenz zu machen. Später kamen Englisch als Bilingualer Zweig und Informatik als Profilfach noch dazu. Eine Besonderheit war in den 90er Jahren das Projekt der Pädagogisierung des Gymnasiums. Wir haben zunächst begonnen, den Übergang von der Grundschule ans Gymnasium bewusst zu gestalten - bevor es andere taten. Das bedeutete zum Beispiel: Handverlesene Hauptfachlehrer in den Eingangsklassen, die Lehrer der einzelnen Klassen ganz bewusst nach verschiedenen Unterrichtsstilen zusammengestellt. Einfach gesagt: Wenn der Klassenlehrer strenger war, hatte zumindest eine Hauptfachlehrerin etwas Mütterliches. Das haben wir eisern durchgezogen. In den 90er Jahren kam dann der Wandel. Das MPG wurde zunehmend attraktiv für die Kinder aus allen gesellschaftlichen Schichten. Das ist bis heute so.

Wie war es an der Schule selbst vor 25 Jahren?

Hannig: Da gab es eine viel größere Distanz zwischen Lehrern und Schülern. Heute sind die Schüler viel selbstbewusster und sehr viel mehr von sich aus an der Schule als Lebenswelt, in der sie sehr viel mehr Zeit als früher verbringen, interessiert und machen ihr Ding selbst.

Tatsächlich?

Hannig: Ja. Die Planung der Erweiterung des Bistros zum Beispiel geht auf Schüler zurück, die von sich aus kamen. Der Anteil der Schüler an der Schulkultur ist viel größer geworden: Sie richten Nikolausfeiern aus, eine Halloween-Party für die Fünfer- und Sechserklassen, Fußballturniere, Abi-Komitees - eine Form von Selbstorganisation, die vor zehn oder zwanzig Jahren überhaupt nicht denkbar gewesen wäre. Das ist eine sehr positive Entwicklung. Und wenn sie eine Abiturfeier organisieren, das ist ein Volumen von 30 000, 35 000 Euro, dann können sich einzelne Talente von Schülern entfalten, die nicht unbedingt in der Interpretation romantischer Liebeslyrik liegen. Eher im Zupacken, Verhandeln, pragmatische Lösungen finden. Oder nehmen sie, als Beispiel, wie stark sich ältere Schüler heute um jüngere kümmern, als Paten oder in Fördermaßnahmen für Schwächere.

Die Schüler nehmen das Umfeld Schule als Lebenswelt an?

Hannig: Ja. Bei uns gibt es zum Beispiel seit Jahren keinen Vandalismus mehr. Sie gehen mit ihren Sachen pfleglich um. Wenn Sie über den Schulhof oder durch die Flure gehen, liegt da nichts rum - da ist alles sauber.

Wie hoch ist Ihr Anteil daran?

Hannig: Es ist eine Frage der Zeit - wenn man lange genug dasselbe vormacht. In jeder Abiturzeitung steht irgendwas drin wie: Der verrückte Hannig, der da rumläuft und das Papier aufhebt, oder irgendjemand in die Hand drückt oder sagt, ich heb's auf und du tust es in den Papierkorb. Das kennen alle rauf und runter. Ein anderes Beispiel: Der schmutzabweisende Belag im Eingang ist rot, wie ein roter Teppich. Der rote Teppich, am Anfang sah das völlig verrückt aus, und dann wurde klar: Wer hier drüber geht, ist willkommen, wird wertgeschätzt, von dem wird auch etwas Besonderes erwartet. Seitdem habe ich mit der Reinigung sehr viel weniger Probleme als vorher. In allen Räumen hängen Bilder von den jeweiligen Reinigungsfrauen. Seitdem sind die Klassenräume sauber. Das bringt mehr als die Lautsprecher-Durchsage: Passt auf, wir machen eine Aktion saubere Schule. Kleinschrittige, jahrelange Arbeit in der gleichen Richtung. Das ist kein Programm, das ergibt sich aus den Notwendigkeiten.

Die Durchsagen des Direktors sind legendär.

Hannig: Schule braucht Rituale. Ein Beispiel: Jeder MPGler macht sich lustig drüber, auch wenn er vom MPG weg ist, dass um 9 Uhr die Schulnachrichten über die Lautsprecher kommen. Fast jeden Tag, aber immer um 9, immer anderthalb Minuten, immer drei Punkte. Jeder findet es lästig, aber alle würden es vermissen, gäbe es plötzlich keine mehr. Einmal in den Schulnachrichten als Gewinner eines Wettbewerbs genannt zu werden, davon zehrt man jahrelang.

Was haben Sie jetzt vor, nach 25 Jahren als Schulleiter?

Hannig: Ich werde jetzt für zwei Monate nach Neuseeland fliegen. Am 31. Januar ist mein letzter Tag hier, der Flug ist für den 1. Februar gebucht. Die klassische Back-Packer-Geschichte, also viel mit dem Rucksack zu Fuß unterwegs. Eine Art Entziehungskur vom MPG. Und sonst? Ich weiß es noch nicht. Ich verlass mich aber drauf, dass das Leben noch was mit mir vorhat.

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