"Oberflächlich gesehen funktioniert ja alles"

Frau Götzinger, Herr Kirsch, wie sehen Sie den Amoklauf von Winnenden? Der Schütze galt als verschlossen, in seinen Nöten in sich gekehrt. Ist er damit allein?Kirsch: Ich denke, es sind sehr viele Jugendliche, die sich immer mehr zurückziehen, die kaum kommunizieren außer übers Internet, die in einer Scheinwelt leben

 Dieter Kirsch und Marina Götzinger. Foto: Hartmann Jenal

Dieter Kirsch und Marina Götzinger. Foto: Hartmann Jenal

Frau Götzinger, Herr Kirsch, wie sehen Sie den Amoklauf von Winnenden? Der Schütze galt als verschlossen, in seinen Nöten in sich gekehrt. Ist er damit allein?Kirsch: Ich denke, es sind sehr viele Jugendliche, die sich immer mehr zurückziehen, die kaum kommunizieren außer übers Internet, die in einer Scheinwelt leben. Ich denke, sie sind dadurch viel gefährdeter als das früher der Fall war.Wie fallen denn in der Schule diejenigen auf, die nicht auffallen?Götzinger: Man braucht ziemlich lange, bis man eine Beziehung zu allen Kindern aufgebaut hat. Wenn man eine große Klasse hat und Kinder, die sehr auffallen, also die Aufmerksamkeit einfordern, dann fallen ruhige Kinder schnell einfach durch. Als Lehrer ist man ja auch mal froh, wenn sie Ruhe halten. Deswegen brauchen wir auf jeden Fall engen Kontakt über lange Zeit. Ich sehe deshalb den Beruf der Grundschullehrerin auch eher als den einer Sozialpädagogin denn einer Fachlehrerin.Kirsch: Ich als Sozialpädagoge muss mir schon Gedanken machen, wenn ich den Namen eines Kindes nach dem dritten Schuljahr noch nicht kenne. Da schaue ich dann schon mal bewusst hin.Wie kriegt man raus, ob ein Kind einfach von seiner Natur aus zurückhaltend ist, oder ob es sich abschottet? Weil es etwas aufgestaut hat?Götzinger: Kinder, die von ihrem Wesen her zurückgezogen sind, machen schon einen ausgeglichenen Eindruck. Die anderen? Da richtet sich oft eine Aggression nach innen. Sie können sehr nervös werden. Ganz typisch: Sie sind am Spielen und brechen dann einen Bleistift kaputt. Da kommt plötzlich im Spiel mehr Kraft rein. Das fällt mir bei den Kleinen öfter mal auf. Kinder, die dazu neigen, in sich hinein zu fressen und sich so abzuschotten? Und Sie nehmen sie auch wahr?Götzinger: Ja. Das ist sicher so. Und das nehme ich wahr.Kirsch: Das ist aber die Ausnahme. Ich denke, es gibt viele Lehrer, die das eben nicht mitbekommen.Wann beginnt es, dass sich Kinder verschließen? Schon in der Grundschule?Götzinger: Früher. Schon im Kindergarten. Wir kriegen manchmal Kinder, die bereits sehr verschlossen herkommen. Kirsch: Natürlich sind diese Kinder meist schon von ihrem Wesen her eher zurückhaltend. Da kann ein sich Verschließen aber ansetzen. Wie können Sie Kontakt mit solchen Kindern aufnehmen?Götzinger: Wenn die Beziehung da ist, wenn in der Klasse eine gute Atmosphäre geschaffen wird, dann geht das. Wenn jeder akzeptiert ist, öffnen sich die Kinder. Ich hatte mal ein Kind, das ein Jahr nicht mit mir geredet hat. Ich habe es immer angesprochen, aber gelassen, wenn es nicht geantwortet hat. Irgendwann kam es dann doch. Eine andere Möglichkeit ist, verschlosseneren Kindern oder Außenseitern Aufgaben zu geben. So, dass sich andere Kinder an sie wenden, sie fragen müssen. Das kann Kinder schon aus der Reserve locken.Dazu braucht es aber Organisatoren an den Schulen.Kirsch: Unsere Schule ist da eine Ausnahme. Das liegt zunächst am Konzept. Götzinger: Das heißt konkret etwa, dass die Erzieherinnen und die Lehrer in einem Team arbeiten. Sie erleben Kinder in unterschiedlichen Situationen und tauschen sich darüber aus. Die Ganztagsschule hilft da viel. Eine Grundschullehrerin ist ja sonst ziemlich einsam mit ihren Erfahrungen. Das ist problematisch. Und es fehlen auch Anlaufstellen. Notrufstellen, zum Beispiel am Kultusministerium. Beim schulpsychologischen Dienst, überhaupt bei Psychologen, muss man oft lange warten. Das müsste ganz schnell gehen.Geht es schneller, wenn ein Kind auffällig ist?Kirsch: Ja. Bei auffälligen Extremfällen geht es schnell. Ansonsten Monate - das ist einfach viel zu lang. Wir haben Kinder, die bräuchten nur ein bisschen Hilfe, bevor sie die Schule verlassen. Aber es gibt nichts. Denn oberflächlich gesehen funktioniert ja alles. Merken Eltern oder Lehrer zuerst, ob ein Kind sich auffällig unauffällig zurückzieht?Kirsch: Die Lehrer, denke ich.

HintergrundLehrerin Marina Götzinger und Sozialpädagoge Dieter Kirsch arbeiten an der Vogelsang-Grundschule in Saarlouis gemeinsam, unter anderem im Ganztagsbereich. Sie haben diese Schule zum Beispiel zu einem Vorreiter für Schüler-Mediation an Grundschulen in Deutschland gemacht. Die Schule engagiert sich auch sonst sozialpädagogisch stark.An diesem Wochenende leiten sie ein Sozialkompetenztraining. Thema: Schikanen. we

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