Interview mit Valerie Schnitzer „Du musst es leben, du gehst mir sonst kaputt“

Saarlouis · 2017 wurde aus Familienvater Ralf Schnitzer eine Frau: Valerie Schnitzer. Beim Literaturfestival „Erlesen“ stellt sie ihre Biographie vor.

 Valerie Schnitzer

Valerie Schnitzer

Foto: Sabine Zeuner

Ralf Schnitzer unterrichtete in Eppelheim am Gymnasium Musik; sein „Eppelheimer Modell“ der Gesangs-Klasse machte europaweit Schule. Für den promovierten Musiker und Musikpädagogen – Ralf Schnitzer studierte Schulmusik, Violoncello, Dirigieren, Gesang und Musikwissenschaft – stand das Musikalische an oberster Stelle, das Menschliche kam eher zu kurz. 2017 dann der Umbruch: Da wurde aus dem 56-jährigen Familienvater Ralf Schnitzer eine Frau: Valerie Schnitzer. Für sie ging mit dieser Geschlechtsangleichung ein Lebenswunsch in Erfüllung, wie sie in ihrem Buch „Geheilte Seele, befreites Ich“ schildert. Auch heute noch lebt sie mit ihrer Familie zusammen und arbeitet als Studiendirektorin am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium Eppelheim.

Frau Schnitzer, das Gefühl, lieber eine Frau sein zu wollen, begleitete Sie schon sehr lange, seit Ihrer Kindheit – was war der Auslöser, zu sagen, „Jetzt wage ich den Schritt, jetzt will ich das auch leben“?

SCHNITZER Ich habe schon sehr lange, bewusst seit der Pubertät, gespürt, dass ich lieber ein Mädchen, beziehungsweise eine Frau,  sein wollte. Dieses Drängen hat mich all die Jahre hindurch begleitet, es ließ sich nicht wegschieben, betäuben; im Gegenteil, es wurde stärker. Das Schlüsselerlebnis war dann 2014 im Urlaub. Meine Frau Monika war immer schon relativ offen, ohne allerdings die Tragweite meines Bedürfnisses in Gänze zu erkennen. So waren wir also im Urlaub mit dem Wohnwagen unterwegs, ohne Kinder, wir waren fast alleine auf einem Campingplatz in Heilbronn, als meine Frau zu mir sagte: „Zieh doch das Kleid mal an, und die Pumps“ – übrigens das Kleid, das ich auch auf dem Foto trage. Das tat ich, und damit wurde etwas in Gang gesetzt, das immer drängender nach außen wollte, gelebt werden wollte.

Ihre Frau hat Sie also unterstützt, den schwierigen Prozess der Geschlechtsangleichung mitgetragen? Was ja auch nicht selbstverständlich ist . . .

SCHNITZER Sie hat zu mir gestanden, hat gesagt „ich liebe dich als Menschen“ – und das ist nicht an ein Geschlecht gebunden oder eine äußere Erscheinung; sie hat mir so viel Energie gegeben – und tut das bis heute. Es war wohl auch, weil sie merkte, wie viel befreiter, wie viel fröhlicher ich war, je mehr ich zu dem stehen konnte, was ich wirklich bin und fühle. Unserer Partnerschaft hat das nicht geschadet, sondern ihr vielmehr eine innige Tiefe und Verbundenheit gegeben.

Abgesehen von der äußeren Erscheinung natürlich – wie unterscheiden sich Ralf und Valerie?

SCHNITZER Im Rückblick betrachtet, war ich – als Mann – sehr autoritär, sehr streng, in der Schule, aber auch in der Familie. Demgegenüber bin ich heute sehr viel emotionaler, ich kann meine Gefühle wahrnehmen und ausleben. Vorher war ein Teil von mir blockiert, sozusagen immer im Kerker eingesperrt.

Die Musik hat Sie Ihr Leben lang begleitet, Sie waren sehr erfolgreich und anerkannt, als Musiker, aber auch als Pädagoge, haben eine ganze Buchreihe veröffentlicht über Ihr Modell der Gesangsklasse unter dem Titel „Singen ist klasse!“ im renommierten Schott-Verlag . . .

SCHNITZER Ich habe manisch gearbeitet; in der Schule, ich reiste in Deutschland und Europa zu Vorträgen über das Gesangsklassen-Modell, aber im Grunde habe ich immer in einer Art Betäubung gelebt. Das ging so weit, dass ich Depressionen, Suizidgedanken hatte. Meine Frau war es dann auch, die es eines Tages in Worte fasste: „Du musst es leben, du gehst mir sonst kaputt.“ Bei einem Winterurlaub dann, im Saarland, in St. Wendel, verbrachte ich erstmals drei Tage im weiblichen Outfit, und da wurde mir dann endgültig klar, dass ich den Schritt zu einer Geschlechtsangleichung wirklich gehen und offen als Frau leben will.

Wie hat Ihr Umfeld auf die „Verwandlung“ reagiert, Ihre Familie, Kollegen, Schüler?

SCHNITZER Ich bin ein religiöser Mensch, und heute sage ich: Es ist das größte Wunder meines Lebens, die positiven Reaktionen, das Verständnis, die vielen guten Gespräche, all das hat mich getragen. Ich bin das allerdings sehr behutsam angegangen. In der Schule habe ich erst in Einzelgesprächen mit den Kollegen gesprochen, dann mit den Schülern, zuerst mit einem Oberstufenkurs – und da herrschte großes Staunen, aber immer Verständnis. Meine Kinder, die damals 16 und 22 waren, haben zunächst Zeit gebraucht – für meine Tochter war es richtige Trauerarbeit, als sie ihren „Daddy“ verloren hat; mein Sohn reagierte spontan absolut verständnisvoll und schrieb mir nach den Tagen in St. Wendel: „Ich möchte Valerie nun unbedingt kennenlernen.“ Unser Verhältnis ist sehr herzlich – auch das zu meiner Tochter.

Der Rückhalt durch Ihre Frau und Ihre Familie und Ihr sehr offener Umgang mit dem Thema haben sicher zur allgemeinen Akzeptanz beigetragen. Sie arbeiten nach wie vor im Schuldienst in Eppelheim, leiten unter anderem einen katholischen Kirchenchor. Gab es auch negative Erfahrungen?

SCHNITZER Nein, offene Anfeindungen habe ich nicht erlebt, einige Unsicherheiten und Unverständnis im Umfeld aber schon. Als ich den Chor übernahm, wurde ein halbes Jahr Probezeit vereinbart, und die Kirche, sprich das Bistum, musste sich natürlich entscheiden – als dann grünes Licht gegeben wurde, habe ich mich sehr gefreut.

Ihr Buch „Geheilte Seele, befreites Ich“ läuft bereits erfolgreich in der zweiten Auflage, die Reaktionen sind sehr positiv. Wenn Sie nun vor Publikum lesen, wie gehen Sie mit dieser Situation um – denn es bleibt ja ein sehr persönliches Thema?

SCHNITZER Natürlich bin ich durch die Arbeit in der Schule gewöhnt, vor Menschen zu sprechen, durch die Arbeit als Dozentin ist mir auch der Umgang mit Erwachsenengruppen vertraut, die Situation als solche ist mir also nicht so fremd. Ich versuche, Teile zu lesen, die wie Mosaiksteine meine Geschichte zeigen, und ermutige die Menschen auch dazu, ihre Fragen zu stellen. Würden sie einmal zu direkt, könnte ich das dann schon benennen. Aber ich denke, dass die Menschen die Tiefe und Ernsthaftigkeit des ganzen Themas spüren, und auch – und das ist mir wichtig – dass Transsexualität nichts ist, was irgendwie billig, grell oder überzeichnet daherkommt, dass es nichts mit Verkleidung oder Travestie zu tun hat, sondern dass es ein tief liegendes Gefühl, ein Teil der Persönlichkeit ist, der gelebt werden will. Hätte ich den Mut nicht gefunden, ich hätte mir Schaden zugefügt, bis zum Suizid, aber auch denen, die mir nahe stehen. Mit meiner Geschichte möchte ich allen Mut machen – über meine eigene Situation hinaus – zu dem zu stehen, was sie sind. „Lebe, was du bist“ ist das, was ich vermitteln will.

Valerie Schnitzer liest am Mittwoch, 10. April,  19.30 Uhr, aus ihrer Biographie „Geheilte Seele, befreites Ich“ in Saarlouis im Theater am Ring. Der Eintritt kostet acht Euro, ermäßigt fünf Euro.  Tickets gibt es bei Bock und Seip in Saarlouis, unter Tel. (0 68 31) 50 07 60 und bei Ticket regional.

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