Die ganze Last eines Jahrhunderts

Ensdorf · Alte Menschen, die in ein Heim umziehen, bringen oft Lieblingsfotos aus ihrem langen Leben mit. Darüber erzählen sie in einer SZ-Serie. Heute: Maria Wagner, die im Seniorenhaus St. Augustin in Ensdorf lebt und heute 100 wird.

 Maria Wagner lebt im Seniorenheim in Ensdorf. Foto: H. Jenal

Maria Wagner lebt im Seniorenheim in Ensdorf. Foto: H. Jenal

Foto: H. Jenal

Wie sie da sitzt im Zimmer im Seniorenheim, aufrecht und konzentriert, Maria Wagner durchlebte die Tragik eines ganzen Jahrhunderts deutscher Geschichte. Als sie geboren wurde, am 29. April 1916, da war die Schlacht um Verdun im vollen Gange. 300 000 Tote sollte das mörderische Schlachten zwischen der Französischen Republik und dem Deutschen Kaiserreich am Ende kosten.

30 Jahre später saß Maria Wagner in einem zerbombten Stellwerk hinter dem Elternhaus in Ensdorf und "kloppte" den alten Putz von den Ziegeln der zerstörten Bahnanlage. "Die brauchte niemand mehr, und ich konnte ein paar Löcher an der Hauswand stopfen. Soweit da noch was stand, das Löcher haben konnte."

Das Elternhaus Faust mit dem Haushaltswarengeschäft war im Hitlerkrieg zerbombt worden. Jetzt, 1945, "stand ich ganz allein da, ohne Eltern, mein Kind war ein paar Wochen alt, mein Mann vermisst."

Ihn, Max, zeigt das Foto, das heute als ihr Lieblingsfoto auf dem Tisch im Seniorenheim St. Augustin in Ensdorf steht. Das Foto hat die Bombardierung überstanden. Ihr Mann aber blieb vermisst. "Ich habe nie eine offizielle Nachricht bekommen. Bis heute nicht." Die Ungewissheit lastet auch jetzt noch, 70 Jahre später.

Kennengelernt hatte ihn Maria Wagner, damals noch Faust, 1939 in Irsch bei einer Tanzveranstaltung. "Ich will Sie heiraten", habe Max gesagt, da kannte er noch nicht einmal ihren Namen, erinnert sich Maria Wagner und wundert sich bis heute darüber. Im Januar 1941 heirateten beide in Ensdorf , sie im dunkelblauen Kleid. Acht Tage Trier war die Hochzeitsreise. "Wunderschöne Tage." Vier mal 14 Tage Fronturlaub ihres Mannes Max in vier Jahren - mehr Ehe war Maria Wagner nicht vergönnt.

"Und dann stand ich da, als der Krieg zu Ende war, das Haus in Ensdorf zerbombt, ganz allein." Sie baute wieder auf, eine "Trümmerfrau", wie man wenig später sagte. Die Bank gewährte ihr Kredit. "Ich habe alles zurückgezahlt." Das Geschäft kam wieder in Gang. Wagner hatte ihrem Vater schon vor dem Krieg ausgeholfen. Sie besaß auch einen Führerschein. Jetzt führte sie das Geschäft alleine. Haushaltswaren, später auch Waschmaschine und Kühlschränke, Fahrräder, alles für den Alltag bis zum Pfennigabsatz für den Damenschuh verkaufte sie ganz am Ende der Saarstraße.

Hinter dem Haus entstand auch das Lieblingsfoto, 1940. Es zeigt sie und Max unter einem Weinstock. Den habe die Großmutter aus Kanzem mitgebracht und eingepflanzt.

Mehr als ein halbes Jahrhundert stand Maria Wagner im Geschäft, die Zeit mit ihrem Vater zusammen mitgerechnet. Ihr Sohn ist heute ein hoch spezialisierter Anwalt in Saarbrücken.

Last hat Maria Wagner getragen, die Last von Politik und Geschichte, die Last von Kühlschränken und Herden. Die schleppte sie mit einem Mitarbeiter zusammen bis in die Wohnungen der Kunden. "Ich wundere mich", sagt sie, die kerzengerade im Stuhl sitzt und am heutigen Freitag 100 Jahre alt wird, "dass ich heute nicht bucklig bin."

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