Edgar Selge bei „Erlesen“-Literaturtagen „Ich will nicht einer sein, der den liebt, der ihn schlägt.“

Saarlouis · Es ist sein erstes Buch – und gleich ein Bestseller: Der Schauspieler Edgar Selge las bei den saarländischen Literaturtagen aus seinem Werk „Hast Du uns endlich gefunden“.

 Schauspieler Edgar selge liest im Rahmen des "Erlesen"-Literaturtage in Saarlouis.

Schauspieler Edgar selge liest im Rahmen des "Erlesen"-Literaturtage in Saarlouis.

Foto: Astrid Karger

Der Schauspieler Edgar Selge las im Rahmen der saarländischen Literaturtage „Erlesen“ im Saarlouiser Ringtheater aus seinem Erstling und Bestseller „Hast Du uns endlich gefunden“, Peter König vom Saarländischen Rundfunk moderierte. König sucht das Gespräch mit dem Autor und lenkt zu Stellen, die das Publikum zum Lachen bringen, wie die schier endlosen Versuche der Mutter, den Führerschein zu bestehen.

Edgar Selge wurde 1948 als vierter von fünf Söhnen geboren, zwei Brüder sterben im Jugendalter. Der Edgar des Buches wächst in einer bürgerlichen Familie auf. Die Eltern flüchten in den Kriegswirren aus Ostpreußen in den Westen. Der Krieg ist verloren, der Nationalstolz verdorben, nur die Kultur bleibt, vor allem die Musik. Der Vater, Jurist, wird in den frühen 50er Jahren Jugendgefängnisdirektor in Herford. Der geräumige Akademikerhaushalt mit dem „Flügelzimmer“ befindet sich inmitten der Gefängnisbauten. Die geschilderten Erlebnisse spielen in dieser Zeit. Buch und Lesung beginnen mit dem regelmäßig stattfindenden „Hauskonzert“ vor Strafgefangenen.

Das Elternaus ist regelhaft, streng. Der Junge möchte verstehen, Zusammenhänge erkennen, moralische Rigidität des Elternhauses und den eigenen fantasiebegabten Hang zur Unaufrichtigkeit in Einklang bringen. Der persönlichen Entfaltung wird zwar im musischen Raum gegeben, aber auch hier kann man viel falsch machen. Das Kind wird mit Verrichtungen im Haushalt beschäftigt. Der Vater nimmt seine Aufgaben sehr ernst, eine Respektsperson, die lateinische Konjugationen abfragt und falsche Antworten mit Ohrfeigen quittiert. Es kommt aber auch vor, dass er sich mit erigiertem Glied an den Sohn drängt, eine bestürzende und lähmende, ratlos machende Erfahrung.

Glückseligkeit und Ausdruck finden die Eltern beim Musizieren, da sind sie nahbar. Sie gehören zu der Generation und Gesellschaftsschicht, für die Kitsch und Kommunismus verabscheuungswürdig geblieben sind, und die damit klarkommen muss, dass das von den Nazis beschworene „edle Menschentum“ mit willkürlichen Erschießungen einherging, dass auch die Schlächter Beethoven hörten. Der Junge beobachtet, wie der Vater beim Klavierspiel dem Diktat des Metronoms enteilt, immer etwas zu schnell ist, was seinem empfindsamen Spiel aber nichts anhaben kann: „Wieder gelingt ihm das Thema wunderschön. Einfach. Schnörkellos. Mit dieser inneren Beweglichkeit, die aus Noten überhaupt erst Musik macht.“ Edgar Selge, selbst Pianist, schreibt hinreißend über Musik, vergleicht seinen Bruder Werner, den Profi, der „Etüden schaufelt wie ein Kohlearbeiter“ und dem das Schubert-Trio nichts anhaben kann, mit sich, den dieselben Melodiebögen willenlos machen, regelrecht „wegschwemmen.“

Einmal entscheidet Selge selbst, was er vorliest, nämlich die zentrale Stelle des Buches. Schon der Bucheinband, das blendend helle Fenster, weist darauf hin, das Kapitel heißt „Abwasch“: „Mensch Edgar, sag was los ist! Meine Liebe zu meinem Vater. Das ist es, was los ist.“ Die erzwungene Reglosigkeit der Pandemie zwingt den über Siebzigjährigen ins „Reagenzglas“, die Erinnerung an die Schläge, die gezielt und dosiert eingesetzten Strafmaßnahmen des Vaters ist wach, fühlbar – der taube Körper, die Kraftlosigkeit. Der Erwachsene fühlt Scham. „Ich will nicht einer sein, der den liebt, der ihn schlägt.“ Er wird diesen Widerspruch nicht auflösen können, aber er sieht die Eltern,„die beiden Panzer, deren manövrierende Bewegungen“ er nicht deuten kann, im titelgebenden Traum. Ein kurzer Traumblick auf die sanft schimmernde Freundlichkeit im Gesicht der Mutter, aber „die Wellen, die alles im Leben transportieren, sind zu kurz und können diesen Ausdruck nicht in mein Herz tragen.“ Fern bleibt auch der im Traum gefundene Vater, „Schau mich an, sagt sein Bild zu mir. Aber nicht zu genau, sonst bin ich verschwunden.“

Man muss Edgar Selge keine Fragen zu dem Buch stellen, es stehen alle Antworten darin, der Grad der Reflektiertheit und kunstvollen Anordnung ist so hoch, dass Fragen unangemessen schlicht, albern bis taktlos wirken können, dennoch ist es verdienstvoll, ihn zum Sprechen zu bringen. Widersprüche müsse man nicht lösen, sie seien auch eine Bereicherung mit künstlerischem Potenzial. Ob das nun alles wahr sei…Fiktion oder Autobiografie? Der Wirklichkeit, die so schnell über einen hinwegziehe, nur Spuren nicht-sprachlicher Natur hinterlasse, könne man sich nur mit Vorstellungskraft nähern. „Der Weg zur Wahrheit führt über die Fiktion.“

Peter König konnte ihm noch entlocken, dass Tagebuchaufzeichnungen aus dem von der Wehrmacht im zweiten Weltkrieg eingeschlossenen Leningrad Grundlage für ein weiteres Buch werden könnten.

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