Zeitnot ist Gefahrenherd im Heim

Dillingen. Kein Prüfer erlebt die reale Situation in Pflegeheimen: "Selbst bei unangemeldeten Besuchen macht das Personal einiges anders, sobald der Medizinische Dienst zur Tür hereinkommt", sagte die Berliner Fachärztin für Hygiene- und Umweltmedizin, Dr. Nicoletta Wischnewski, gestern in Dillingen

Dillingen. Kein Prüfer erlebt die reale Situation in Pflegeheimen: "Selbst bei unangemeldeten Besuchen macht das Personal einiges anders, sobald der Medizinische Dienst zur Tür hereinkommt", sagte die Berliner Fachärztin für Hygiene- und Umweltmedizin, Dr. Nicoletta Wischnewski, gestern in Dillingen. Zeitnot aus Personalmangel führe zu Hygienedefiziten bei der Pflege, was die Verbreitung gefährlicher Bakterien in Heimen beschleunige. Dabei gebe es einfache Gegenmaßnahmen. Bei der Fachtagung des Berufsverbands der Hygiene-Inspektoren SaarLorLux befassten sich 250 Mitarbeiter aus Alten- und Pflegeheimen sowie Gesundheitsämtern unter anderem damit, wie der Schweinegrippe zu begegnen ist oder wie aus kritischen Ereignissen Verbesserungen in Heimen abzuleiten sind. Die Dokumentation seit 2001 zeige, dass die Verbreitung jener Bakterienarten zugenommen hat, die Erbinformationen über Resistenzen austauschen und so schneller gegen Antibiotika immun werden, hieß es. Hygiene vernachlässigt"Das ist noch nicht tragisch, weil diese Bakterien nicht gegen Desinfektionsmittel resistent sind, nur gegen Antibiotika", sagte Wischneswki. Eine Infektion damit sei schwer zu behandeln und könne zu Blutvergiftung oder Lungenentzündung führen, sei aber leicht zu verhindern. Dazu reiche es meist, nach der Pflege jedes Patienten die Hände zu desinfizieren sowie Kittel und Schutzhandschuhe zu tragen.Hochachtung und Mahnung"Ich habe Hochachtung davor, was das Personal leistet, leider fällt oft weg, was Zeit kostet: der Weg zum Desinfektionsmittel-Spender", monierte die Ärztin. "Simpel wären Kittelflaschen, die man dabei hat. Aber die kosten mehr. Das ist den Einrichtungen zu teuer." Auch der bekannte Kritiker des Pflegesystems, Claus Fussek, sieht die Zeitnot, appellierte in Dillingen aber an sein Publikum: "Opfer sind nicht die Pflegekräfte, sondern Alte, die unterernährt sind, weil ihnen keiner beim Essen hilft - die nicht trinken wollen, weil sie niemand zur Toilette bringt." Windeln und Magensonden seien oft der unerträgliche Ausweg. Als Buchautor erhalte er auch aus dem Saarland Leserbriefe verzweifelter Angehöriger und Pflegerinnen. "Alle wissen Bescheid, jeder in seiner Funktion", meinte der Münchner. "Wir lassen unsere Eltern, die uns aufgezogen haben, hungern, weil es zu aufwändig ist, sie zu füttern. Wo ist der kollektive Aufschrei?" Es sei skandalös, nach einer Studie zu diskutieren, ob 50 oder "nur" 40 Prozent mangelernährt seien.Fussek berichtete: "Es gibt auch Heime, die es gut machen. Sie haben Ehrenamtler und Angehörige, die helfen, und eine Heimleitung, die Kritik gerne anhört." Entscheidend sei der Rückhalt in der Kommune, die sage: "Wir garantieren als Bürger, dass bei uns kein alter Mensch hungern muss."

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