Bombardement jährt sich zum 75. Mal Wie ein damals Fünfjähriger den Angriff erlebte

Dillingen · Carl Bodinet erinnert sich noch in allen Einzelheiten an die Explosion 1944 am Dillinger Bahnhof, vor allem, wie es im Luftschutzkeller zuging.

Am 27. August jährt sich zum 75. Mal die wohl schlimmste Kriegskatastrophe der Hüttenstadt. Carl Bodinet hat dies als Fünfjähriger erlebt und bis zum heutigen Tag in minutiöser Erinnerung behalten. Hier schildert er seine Eindrücke von damals.

An diesem Tag erwischte ein amerikanischer Jagdflieger einen am Dillinger Bahnhof abgestellten Munitionszug, der daraufhin in die Luft flog und unglaubliche Verwüstungen anrichtete. So durchschlug beispielsweise ein herausgerissener Strang einer Eisenbahnschiene das Dach des rund 500 Meter Luftlinie entfernten Saardoms und auch eine Güterwagentür das Dach unseres Hausarztes in der Dr. Prior Straße.

Wir wohnten in der Merziger Straße etwa 300 Meter vom Ort des Geschehens entfernt. Meine Eltern und Großeltern sowie meine zwei Jahre ältere Schwester und ich hatten uns gerade an diesem sommerlich heißen Tag zum Mittagstisch begeben, als das markerschütternde und beängstigende Sirenengeheul anhob. Das war an sich kein unbekanntes Geschehen, wurde die Bevölkerung in jenen Tagen doch häufig damit konfrontiert. Das geschah jedoch meistens nachts. Dieses Mal aber am helllichten Tag und das klang bedrohlich. So schickte mein Vater uns alle auch nachdrücklich in den Luftschutzkeller. Bis auf meinen Großvater kamen wir alle dieser Aufforderung nach.

Er jedoch weigerte sich und harrte oben aus, am Volksempfänger die Luftlage sondierend. Nachdem wir uns unten eingerichtet hatten, hörte man bald auch das bekannte Dröhnen von Flugzeugmotoren. Meinen Vater hielt es unten nicht mehr, er eilte nach oben, um den Opa – immerhin schon 80 – nach unten zu bewegen. Der aber weigerte sich beharrlich, woraufhin mein Vater ihn mit sanfter Gewalt packte und vor sich her die Kellertreppe hinunter schob. Noch auf der letzten Treppenstufe ereignete sich die ohrenbetäubende Detonation und mein Vater bekam die Kellertür von oben ins Kreuz. Zum Glück kam er mit nur blauen Flecken davon.

Mit einem Mal war es stockdunkel und der beißende Geruch von Dreck und Staub verschlug uns den Atem.

Meine Mutter, die zuvor noch schnell Wäsche aus dem Waschkeller abgehängt hatte, zerriss geistesgegenwärtig ein schnell benetztes Leintuch, und jeder bekam ein nasses Stück Tuch, das er sich vor das Gesicht zum Atmen halten sollte.

Zunächst herrschte eine gespenstige, angsterfüllte Stille, die jedoch von nachfolgenden kleineren Detonationen durchbrochen wurde. Die drängende Stimme meines Vaters scheuchte uns nach oben, aus Angst vor einer möglichen defekten Gasleitung.

Oben zeigte sich die absolute Zerstörung. Nichts war heil geblieben, Fenster, Türen, Mobiliar, Gardinen, alles war zerfetzt. Großvater hätte es nicht überlebt, worüber er am Abend, nachdem er den ersten Schreck verdaut hatte und sich der Tragweite bewusst war, bitterlich geweint hat.

Die Außentreppe unserer Hochparterre-Wohnung war weg, ebenso wie alle Dachziegel, die weit verstreut lagen. Mein Vater stand unten, wo die Treppenstufen waren und forderte mich auf, in seine ausgestreckten Arme zu springen, was ich tat.

Anschließend liefen wir eilig über die menschenleere Straße hinüber auf die andere Seite und verkrochen uns unter Hecken, welche die rückwärtigen Hintergärten der Nachbarstraße säumten. Immer wieder hörte man Detonationen und ich sah auch deren Blitze, wenn ich den Kopf hob.

Nach etwa einer Stunde war der Spuk vorüber, noch lange aber nicht der Schreck.

Wir waren von einer Sekunde auf die nächste obdachlos geworden. Die folgende Nacht verbrachten wir im Nachbarort Wallerfangen bei Bekannten, um am nächsten Tag mit einem Sondertransport nach Idar-Oberstein zur Schwester meiner Mutter befördert zu werden. Ein paar Tage später ging der Evakuierungszug weiter nach Thüringen, wo wir beim Bruder meines Vaters den gesamten Rest der Kriegszeit verbrachten, inklusive der Zwangseinquartierung zweier russischer Offiziere in unserer Wohnung, die aber immerhin die zahlreichen Frauen, Mutter, Großmutter, Tanten, Cousinen vor Übergriffen beschützten.

Im darauffolgenden Herbst wurde ich dort eingeschult, ab Februar folgte eine mehrmonatigen Odyssee Richtung Heimat, wo wir im Mai wieder unsere immer noch total zerstörte Heimatstadt erreichten.

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