Strohhalm gegen Sprachlosigkeit

Saarbrücken/ Bous. Mirko ist zu hören, bevor man ihn sieht. Wütend hallen seine Schreie im Treppenhaus, nehmen an Lautstärke zu, als die Tür zur Praxis geöffnet wird. Ein Mann spricht leise, dann geht das Protestgebrüll in Glucksen über. Schließlich herrscht Ruhe. Die Tür zum Behandlungsraum geht auf, und Mirko kommt herein

 Logopädin Astrid Konz-Drumm bringt Mirko bei, wie man Seifenblasen in der Schale blubbern lässt. Foto: Oliver Dietze

Logopädin Astrid Konz-Drumm bringt Mirko bei, wie man Seifenblasen in der Schale blubbern lässt. Foto: Oliver Dietze

Saarbrücken/ Bous. Mirko ist zu hören, bevor man ihn sieht. Wütend hallen seine Schreie im Treppenhaus, nehmen an Lautstärke zu, als die Tür zur Praxis geöffnet wird. Ein Mann spricht leise, dann geht das Protestgebrüll in Glucksen über. Schließlich herrscht Ruhe. Die Tür zum Behandlungsraum geht auf, und Mirko kommt herein. Gleich einem Spaziergänger, der selbstvergessen im Park flaniert. Logopädin Astrid Konz-Drumm schenkt er nur einen flüchtigen Blick. "Das ist ein enormer Fortschritt", versichert Konz-Drumm. "Bei den ersten Terminen ist er rumgerannt, hat geschrien und ständig gewürgt."Ein Problemkind. So könnte man Mirko Braun aus Bous leicht etikettieren. Doch die Probleme, die beschert ihm das Leben selbst - und dies seit dem Tag der Geburt. Viel zu früh, in der 24. Schwangerschaftswoche, kam Mirko im Oktober 2001 zur Welt. Gerade mal 530 Gramm wog der Säugling. Brutkasten, künstliche Ernährung und Beatmung waren notwendig. Erst drei Jahre später konnte Mirko auf die Geräte verzichten. Die Schwierigkeiten endeten jedoch nicht: Bis heute kann Mirko weder sprechen noch feste Nahrung zu sich nehmen.Die Betreuung ihres einzigen Kindes ist für Heike (38) und Dirk Braun (35) lebensfüllend. Vormittags besucht der Sechsjährige zwar einen Kindergarten in Saarwellingen, nachmittags aber reihen sich Krankengymnastik, Ergo-, Reit- und Musiktherapie. Wenige Fortschritte gibt es beim Sprechen: Astrid Konz-Drumm, die Mirko seit November 2007 in ihrer Praxis in Saarbrücken behandelt, ist bereits seine vierte Logopädin. Sie ist optimistisch: "Mirko ist ein Extremfall, es gibt keine Vergleichswerte. Aber ich denke, er ist ein Kämpfer."Die Gründe für Mirkos Probleme sieht Konz-Drumm in der frühen Geburt und der folgenden künstlichen Beatmung und Ernährung. "Drei Jahre hatte das Kind keinerlei Erfahrung im Mundbereich", sagt die 52-Jährige im geblümten Wickelkleid. Er habe nicht durch den Mund geatmet, gesaugt oder geblasen. Doch dies sei wichtig, so Konz-Drumm: "Ich muss mich und meine Umwelt spüren, um Probleme zu lösen. Das ist die Voraussetzung, um Kategorien zu bilden und die Entwicklung von Sprache zu vollziehen." Sie plant, Mirkos Hypersensibilität gesamtkörperlich und im Mundbereich abzubauen und ihm Informationen für Köper und Mund zu geben. "Aber so, dass es ihm Spaß macht und die Neugier geweckt wird. Denn Neugier ist die Voraussetzung fürs Lernen."Diese soll heute eine Wühlkiste wecken. Nacheinander kramt Mirko eine Puppe, eine Farbrolle und Trinkflaschen heraus. Hinter Mirko sitzend beugt sich Astrid Konz-Drumm vor, öffnet Hand auf Hand die Flaschenverschlüsse - Körperkontakt, den Mirko noch vor Kurzem verweigerte. Anschließend fährt sie ihm mit der Rolle über Haare, Arme und Beine, benennt die Körperteile: "Hallo Kopf, hallo Arme. Jetzt Du." Dann schüttet die Logopädin Seifenwasser in eine Plastikschale. Die Augen hinter den Brillengläsern zusammengepresst, blubbert Mirko mit einem Strohhalm Blasen auf. Und macht sie mit explodierendem "Pöh, pöh, pöh"-Pusten kaputt. Er geht ganz in dem Spiel auf. Nur manchmal versucht er sich der Umarmung zu entwinden, entdeckt dann etwas Neues, macht wieder mit. Als am Ende der Stunde Vater Dirk hereinkommt, wirkt Mirko erschöpft, aber entspannt. "In den letzten Wochen ist Mirko viel selbstständiger geworden", sagt Dirk Braun, während er seinen Sohn auf den Arm nimmt. "Irgendwann soll er sprechen und alleine essen können. Aber er wird immer Betreuung brauchen." Doch dringender ist ein Termin im Herbst. "Dann wird Mirko eingeschult", sagt Braun. "Wie jeder andere kleine Junge." "Um selbstständig zu leben, muss Mirko reden können." Vater Dirk Braun

HintergrundDem Deutschen Bundesverband für Logopädie (dbl) gehören rund 10000 Mitglieder an. Der saarländische Landesverband, der 1978 von Astrid Konz-Drumm und Tamara Hannig gegründet wurde, zählt aktuell 162 angestellte und selbständige Logopäden. Diese behandeln Menschen jeden Alters mit Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen. Der Fall von Mirko Braun ist laut Landesvorsitzendem Boris Aschauer "extrem". Im Saarland sei ihm nur ein vergleichbarer Fall bekannt. Weitere Informationen im Internet: www.dbl-ev.de ith

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