Wer will schon aus der Zeit fallen?

Ich glaube nicht, dass Lilly Lilly heißt. Es wäre schon ein sehr großer Zufall, wenn sie so hieße, wie ich sie nenne - nur so für mich in Gedanken. Nach ihrem Namen habe ich sie nicht gefragt, weil ich Sorge hatte, dass sie dann aufhört zu erzählen. Und das wäre wirklich schade gewesen. Lilly hat nämlich viel zu erzählen

Ich glaube nicht, dass Lilly Lilly heißt. Es wäre schon ein sehr großer Zufall, wenn sie so hieße, wie ich sie nenne - nur so für mich in Gedanken. Nach ihrem Namen habe ich sie nicht gefragt, weil ich Sorge hatte, dass sie dann aufhört zu erzählen. Und das wäre wirklich schade gewesen. Lilly hat nämlich viel zu erzählen. Sie putzt in einem Saarbrücker Krankenhaus, hat auch schon in einem Altenheim sauber gemacht.Da erlebe man einiges, sagt Lilly. Vor allem aber erfahre man ganz viel über die Menschen. Was wohl daran liegt, dass Menschen sich vor einer Reinigungsfachkraft nicht verstellen.

"Wissen Sie", fragte mich Lilly, "was Menschen sehr oft als erstes fragen, wenn sie gerade dem Tod von der Schippe gesprungen sind?" Tja, was fragt so jemand? "Die fragen nach der Zeit", erklärte mir Lilly - ohne sich das selbst erklären zu können. "Das muss man sich mal vorstellen: Da hat jemand gerade einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall überlebt, und was will der wissen? Wie spät es ist!", wunderte sich Lilly. "Vielleicht gibt die Zeit Halt. Vielleicht haben die Menschen Angst, aus der Zeit zu fallen", habe ich ihr als Erklärung vorgeschlagen. Lilly nickte. "Ja", sagte sie, "das wird es sein. Wer will schon aus der Zeit fallen?"

Wobei: Manchmal kann es faszinierend sein, aus der Zeit zu fallen. Beim Lesen von Dieter Paul Rudolphs neuem, in diesen Tagen im Saarbrücker Conte-Verlag erschienen Buch ist mir das gelungen. "Der Bote" heißt der Roman. Er wird vom Verlag als "Science-Fiction-Krimi aus der guten alten Zeit" beworben. Und wirklich: 168 Seiten lang scheint es, als liege die Vergangenheit in der Zukunft. Eine Wahnsinnsgeschichte erzählt Dieter Paul Rudolph da.

Wäre Lilly in der Nähe gewesen, hätte ich sie wohl beim Zuklappen des Buches nach der Zeit gefragt.

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