Unterwegs in ein verstrahltes Land

Saarbrücken. Peter Chodorski ist ein ungewöhnlicher Mensch. Er widersteht nicht nur der menschlichen Neigung, die Not anderer möglichst weit wegzuschieben. Chodorski geht dorthin, wo die Not groß ist - und lädt Menschen, denen es nicht gut geht, zu sich nach Hause ein. Etwa 50 Mal war Chodorski in den vergangenen 20 Jahren in Weißrussland

 Mit einem Pferdewagen holen alte Frauen im Dorf Gritschinowitschi die Pakete aus dem Saarland ab. Fotos: Keilbach

Mit einem Pferdewagen holen alte Frauen im Dorf Gritschinowitschi die Pakete aus dem Saarland ab. Fotos: Keilbach

Saarbrücken. Peter Chodorski ist ein ungewöhnlicher Mensch. Er widersteht nicht nur der menschlichen Neigung, die Not anderer möglichst weit wegzuschieben. Chodorski geht dorthin, wo die Not groß ist - und lädt Menschen, denen es nicht gut geht, zu sich nach Hause ein. Etwa 50 Mal war Chodorski in den vergangenen 20 Jahren in Weißrussland. Dort, wo Menschen noch immer unter einem Ereignis leiden, das auch Menschen im Saarland bewegt hat. Ein Ereignis, das für die meisten hier aber nicht nur geographisch weit weg ist: die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Eine Katastrophe, die in der Nacht zum 26. April 1986 begann. Um ein Uhr in der Nacht setzte ein Techniker die Notabschaltung des Atomkraftwerks in der Ukraine in Gang. Wenige Sekunden später, so heißt es in den Berichten, hörten die Menschen noch zehn Kilometer weiter einen dumpfen Knall. Aus Block vier des Kraftwerks entweichen große Mengen radioaktiv belasteter Luft. Eine radioaktive Wolke versetzt halb Europa in Angst. Auch im Saarland wird Gemüse und Obst vernichtet, weil die Angst vor einer radioaktiven Belastung groß ist. In den ersten Tagen nach dem Unglück werden Kinder angehalten, nicht draußen zu spielen.Im Saarland, rund 2000 Kilometer von Tschernobyl entfernt, ist das eine Geschichte von früher. In der weißrussischen Region Gomel, über der ein Großteil der Unglückswolke als Regen niederging, ist Tschernobyl Gegenwart."Heute noch, 24 Jahre danach, erkranken Kinder in verseuchten Gebieten an Schilddrüsenkrebs, Leukämie und anderen Dingen, die aufgrund eines geschwächten Immunsystems auftreten", sagt Herbert Keilbach. Keilbach und Chodorski engagieren sich im selben Verein, der Saarländischen Kinderhilfe, die den Zusatz "Leben nach Tschernobyl" trägt. Keilbach ist Schatzmeister, Chodorski Vorsitzender.Seit 1994 haben Menschen, die sich in diesem Verein engagieren, es geschafft, rund 800 Kinder aus der Gomel-Region zur Erholung ins Saarland zu holen. "Kinder, die im Sommer im Saarland waren, kommen dort besser über den Winter", erklärt Chodorski. Die Erholung ist das eine, das andere sind Hilfstransporte ins Gomel-Gebiet. Im April starten Chodorski, Keilbach und die anderen Aktiven des Vereins zum 25. mal nach Weißrussland. 280 Tonnen Lebensmittel, 300 Tonnen Kleider, 540 Fahrräder, 65 Krankenhausbetten, acht Zahnarzt-Behandlungsstühle und 80 Rollstühle hat der Verein bereits ins Gomel-Gebiet gebracht. In der Stadt Shitkowitschi hat der Verein ein Lagerhaus. Von dort aus werden die Pakete mit Kleinbussen in die Dörfer verteilt. Die meisten der Pakete sind von Gasteltern, die Kinder aus der Region im Saarland beherbergt haben, erklärt Keilbach. "Und jedes Paket kommt bei der Familie an, für die es bestimmt ist", versichert er."Dort ist keine Industrie. Die Leute leben von dem, was sie anbauen", erklärt Chodorski. Das Problem: Die Nahrung, die vor Ort wächst, mache krank. "Die Leute können aber nicht weg. Was sollen sie also anderes tun, als das zu essen, was sie selbst produzieren können", fragt er. "Eine Tüte Mehl, eine Flasche Öl haben hohen Stellenwert. Eine Flasche Öl kostet zum Beispiel etwa 2,50 Euro. Ein Lehrer zum Beispiel verdient aber nur zwischen 120 und 140 Euro. Und die Hälfte des Geldes geht fürs Heizen im Winter weg." Wenn jemand einen Mantel für den Winter braucht, heiße das meistens: Die ganze Großfamilie muss ich noch mehr einschränken, um die Kleidung bezahlen zu können, weiß Chodorski. "Es gibt dort kein staatliches soziales Auffangsystem wie bei uns", erklärt er.Die Fahrten nach Weißrussland seien also wohl noch viele Jahre wichtig. Noch wichtiger sei es aber, Gasteltern für die Ferienkinder zu finden, sagt Keilbach. Wenn dieser persönliche Draht reiße, werde es irgendwann auch keine Hilfslieferungen mehr geben. Gasteltern zu finden, werde aber immer schwieriger. Was er nicht verstehen könne, sagt Keilbach, denn: "Man beschenkt sich selbst, wenn man Kinder aufnimmt. Man kriegt eine ganz andere Welt mit."www.saarlaendische-kinderhilfe.de "Kinder, die im Sommer im Saarland waren, kommen in Weißruss-land besser über den Winter."Peter Chodorski, Vorsitzender der Kinderhilfe

 Winfried Fegert, vorne, und Paul Kazimirski bei der Auslieferung von Lebensmittelpaketen im Dorf Jowitschi.

Winfried Fegert, vorne, und Paul Kazimirski bei der Auslieferung von Lebensmittelpaketen im Dorf Jowitschi.

 Auf diesem Platz in Shitkowitschi kommen Menschen an Ostern (hier 2009) an einer orthodoxen Holzkirche zusammen, um Lebensmittel segnen zu lassen.

Auf diesem Platz in Shitkowitschi kommen Menschen an Ostern (hier 2009) an einer orthodoxen Holzkirche zusammen, um Lebensmittel segnen zu lassen.

Auf einen BlickDer Verein "Saarländische Kinderhilfe - Leben nach Tschernobyl" wurde im Dezember 1997 gegründet und hat zurzeit 210 Mitglieder. Der gemeinnützige Verein ging aus einer Initiative hervor, die bereits 1994 Kinder aus Weißrussland ins Saarland eingeladen hat.Ansprechpartner des Vereins sind Peter Chodorski (1. Vorsitzender) aus Blieskastel, Telefon (0 68 42) 15 19, Jürgen Müller (2. Vorsitzender) aus Blieskastel, Telefon (0 68 42) 5 23 65, Karina Keilbach aus Saarbrücken (Schriftführerin), Telefon (06 81) 6 88 91 26 und Herbert Keilbach (Schatzmeister) aus Mandelbachtal, Tel. (0 68 03) 34 38. ols

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort