"Sprache schafft Frieden"

Herr Götze, immer wieder heißt es: "Sprache ist der Schlüssel zur Integration." Kann es sein, dass die Bedeutung der Sprache überschätzt wird?Götze: Nein, keinesfalls. Nur wer die Sprache beherrscht, kann ein Teil der Gesellschaft werden, sich mit anderen austauschen und engagieren

Herr Götze, immer wieder heißt es: "Sprache ist der Schlüssel zur Integration." Kann es sein, dass die Bedeutung der Sprache überschätzt wird?Götze: Nein, keinesfalls. Nur wer die Sprache beherrscht, kann ein Teil der Gesellschaft werden, sich mit anderen austauschen und engagieren. Dass in Deutschland Parallelgesellschaften entstanden sind, liegt auch daran, dass viele Einwanderer kaum Deutsch sprechen. Wir haben diesen Missstand viel zu lange tatenlos geduldet. Die Sprach- und Integrationskurse sind ein erster Schritt in die richtige Richtung. Allerdings sollten sie nicht nur für neue Einwanderer verpflichtend sein, sondern auch für jene, die schon länger bei uns leben. Nicht zuletzt für die Frauen, deren Männer sagen: "Du brauchst diesen Deutschkurs nicht." Gegen diese Form der Unterdrückung müssen wir vorgehen.

Die Erfolgsbilanz der Kurse ist jedoch bestenfalls durchwachsen: Eine Studie belegt, dass nur die Hälfte der Teilnehmer nach 600 Stunden das angestrebte Sprachniveau B 1 erreicht. Eine andere kommt zu dem Ergebnis, dass die Kurse lediglich 15 Prozent der Teilnehmer zu einem Ausbildungs-, Studien- oder Arbeitsplatz verhelfen.

Götze: Es stimmt: Das Kursangebot muss dringend verbessert werden. Zunächst einmal brauchen wir mehr Kurse und mehr Unterrichtsstunden. 600 Stunden reichen bei weitem nicht aus. Bei diesem Umfang können die Themen nur oberflächlich behandelt werden - ohne dass viel hängen bleibt. Die angeblichen Erfolgsziffern, die Politiker präsentieren, dienen nur deren Selbstbeweihräucherung. Sie verschweigen, dass gerade die Teilnehmer aus Proletarierkreisen - diejenigen, welche die Kurse am dringendsten benötigen - am wenigsten davon profitieren. Viele von ihnen brauchen dringend zunächst einen Alphabetisierungskurs. Die Kurse müssen die Bedürfnisse des Einzelnen stärker berücksichtigen.

Wie ließen sich die Kurse Ihrer Meinung nach noch verbessern?

Götze: Die Teilnehmer bringen unterschiedliche sprachliche Voraussetzungen und Lerntraditionen aus ihren Heimatländern mit, etwa das sture Abschreiben und Auswendiglernen. Jemand, der 'nur' Germanistik oder ein anderes Fach studiert und noch nie Einwanderer unterrichtet hat, kann nicht angemessen darauf reagieren, etwa indem er seine Schüler dazu motiviert, zu hinterfragen und eigenständig zu lernen. Die Lehrer müssen eine Ausbildung in Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache haben und über interkulturelles Wissen verfügen. Das gilt besonders für die Lehrer an Grund- und weiterführenden Schulen.

Inwiefern?

Götze: An vielen Universitäten werden die Lehrer immer noch so ausgebildet, als würden sie später nur Deutsche unterrichten. Dementsprechend können sie später schlechter auf Einwandererkinder eingehen, was deren Leistung hemmt - und die Integration. Hier herrscht in Ministerien und Hochschulen noch immer eine unglaubliche Ignoranz.

Wie würden Sie "Integration" definieren?

Götze: Integration ist ein Dialog zwischen Kulturen. Sie verläuft nicht einseitig, sondern ist ein wechselseitiger Prozess. Die Mehrheit lernt von den Minderheiten und umgekehrt. Das heißt auch, dass wir uns lösen müssen von der Einstellung: "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen." Wir sollten andere Kulturen nicht gering-, sondern wertschätzen, uns Wissen über sie aneignen und von ihren Schätzen profitieren - auch vom Islam, der immer mehr zum Feindbild wird. Schon Goethe hat in seinem West-Östlichen Divan verkündet, dass Orient und Okzident nicht zu trennen sind. Natürlich gehört der Islam zu Deutschland - aber ein aufgeklärter Islam, nicht die Scharia.

Wo setzen Sie die Grenze?

Götze: Jede Kultur muss die Menschenrechte respektieren. Wir dürfen nicht tolerant gegenüber Intoleranz sein. Als ich einmal in Jordanien in einer Klasse zu Gast war, hat ein Schüler gesagt, dass er sich nicht von einer Frau unterrichten lässt. Das konnte und wollte ich nicht akzeptieren.

Bei der Begegnung mit anderen Kulturen müssen wir jedoch immer auch ein Scheitern einkalkulieren. Aber wir müssen aufeinander zugehen; es gibt keine vernünftige Alternative. In 50 Jahren werden wir eine Migrationsgesellschaft sein. Europa ist keine Insel. Deshalb müssen wir die Sprache als Instrument nutzen: Sie schafft Frieden.

Weshalb fördert Sprache den Frieden?

Götze: Ich halte es mit einem Satz Tomas Masaryk, dem früheren tschechischen Präsidenten: "Je mehr Sprachen du sprichst, desto mehr bist du Mensch." Wer mehrere Sprachen beherrscht, ist toleranter und aufgeschlossener, weniger empfänglich für Feindbilder. Deshalb ist Bildung so wichtig für unsere Zukunft.

Heftig diskutiert wird die Frage, welche Sprache Einwandererkinder wann lernen und sprechen sollten.

Götze: Am besten sollten sie Deutsch und ihre Muttersprache gleichzeitig erlernen - und zwar so früh wie möglich. Hierbei ist eine Trennung sinnvoll: Zuhause spricht das Kind zum Beispiel Türkisch, im Kindergarten Deutsch. Wichtig ist, dass die Muttersprache der Mädchen und Jungen geschätzt und nicht diskriminiert wird. Sonst können sie die deutsche Sprache auch nicht wertschätzen. Zudem bringt ihnen die frühe Zweisprachigkeit später Vorteile beim Englisch-, Französisch- oder Spanischlernen.

Die deutsche Sprache hat nicht den besten Ruf. Viele halten sie für hässlich und kompliziert.

Götze: Das liegt auch daran, dass Deutsch oft wie Latein vermittelt wird, mit dem Fokus auf der Grammatik. Dadurch rückt die Schönheit in den Hintergrund. Ich liebe die deutsche Sprache für ihre Fülle an Metaphern, färbenden Adjektiven und Verben. Kaum eine andere Sprache ist daran so reich. Überdies ist keine Sprache einfach, auch Englisch nicht, wie vielfach behauptet.

Wenn Sie einen Einwanderer mit einem Text für die deutsche Sprache begeistern wollten - was würden Sie ihm zu lesen geben?

Götze: Die "Kinderhymne" von Bert Brecht. Darin heißt es:

Und nicht über und nicht unter

Andern Völkern woll'n wir sein.

Von der See bis zu den Alpen

Von der Oder bis zum Rhein.

Und weil wir dies Land verbessern

Lieben und beschirmen wir's

Und das liebste mag's uns scheinen

So wie andern Völkern ihrs.

< Lesen Sie in der nächsten Folge: Was die Seele von Einwanderern bewegt.

Hintergrund

Das Thema Integration treibt Deutschland weiterhin um. Zwei Sätze fallen ständig: "Sprache ist der Schlüssel zur Integration." Und: "Integration ist keine Einbahnstraße." Die SZ geht den Sätzen in einer Serie auf den Grund. Wir stellen Menschen vor, die sich um die Kommunikation zwischen den Kulturen kümmern. Zudem haben wir eine Sprachpatenschaft für eine Frau aus Kasachstan übernommen. Wir wollen keine - vermeintlich objektiven - Zahlen liefern, sondern uns dem Thema auf persönliche Weise nähern. Der Titel der Serie lautet "Nix verstehn". Weil er das Problem auf den Punkt bringt: Viele Einwanderer verstehen und kennen die Einheimischen nicht - und umgekehrt. gha

Auf einen Blick

Lutz Götze wurde 1943 in Schleffin geboren. Von 1961 bis 1966 studierte er Germanistik, Anglistik, Niederlandistik an der Uni Leipzig und arbeitete als Lektor für deutsche Sprache in Guinea. Insgesamt war Götze 13 Jahre lang für das Goethe-Institut tätig. Nach der Promotion 1978 folgte er 1981 dem Ruf an die Uni Bochum. Von 1992 bis zu seinem Ruhestand 2009 war Götze Professor für Deutsch als Fremdsprache an der Universität des Saarlandes. Götze ist Beiratsmitglied des Vereins Deutsche Sprache und leitet das Mercator-Projekt zur sprachlichen Förderung von Einwanderer-Kindern. Zu seinen Spezialgebieten gehören Hirnforschung und Spracherwerb sowie interkulturelles Lernen.gha

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort