So erlebten Soldaten den Ersten Weltkrieg

Nancy · Im Rahmen einer frankreichweiten Sammelaktion zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs tauchen auch in Lothringen hunderte Bilder, Soldatenbriefe, Tagebücher und Postkarten wieder auf.

 Impressionen von der Front: hier der Abtransport eines Verwundeten (1915). Foto: Stadtarchiv Nancy

Impressionen von der Front: hier der Abtransport eines Verwundeten (1915). Foto: Stadtarchiv Nancy

Foto: Stadtarchiv Nancy

"Wenn ich auf dem Place Stanislas zehn Menschen zum Ersten Weltkrieg befragen würde, könnte mir bestimmt nur drei von Ihnen etwas Genaueres dazu sagen", schätzt Daniel Peter, Leiter des Stadtarchivs von Nancy. Als die staatliche Kommission für Gedenkveranstaltungen zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs in Frankreich im vorigen November die Bevölkerung aufrief, den Archiven im Land private Dokumente von Weltkriegsteilnehmern ihrer Familien zu überlassen, hatte Peter daher nur geringe Erwartungen. "Ich hoffte auf 50 Leute", sagt er. Doch dann kamen drei Mal so viele und noch immer melden sich Enkel, Urenkelinnen, Neffen von Kriegsveteranen in Peters Archiv. Weshalb er die ursprünglich auf die Woche rund um den 11. November begrenzte frankreichweite große Sammelaktion, die "Grande Collecte", in Nancy, einer von über 60 Sammelstellen, weiterlaufen lässt.

"Einige hatten auf dem Dachboden herumgekramt, aber viele hatten die Zeugnisse ihrer Großväter und Urgroßväter auch sehr sorgfältig aufbewahrt und waren sehr gut vorbereitet, als sie kamen", erzählt Archivleiter Peter. Er und sein Team notierten sich zu den Dokumenten auch Angaben zu Namen, Standort, Regiment der Veteranen. Es war den Leuten sehr wichtig, davon zu erzählen, stellten sie fest. Gefragt hatte die Aktion in erster Linie nach Bildern und Schriftzeugnissen, die die Archive nun digital erfassen und in die europäische virtuelle Bibliothek "Europeana 14-18" eintragen. Danach erhalten die Besitzer die Zeugnisse, sofern sie sie nicht schenken, wieder zurück.

Die bisherige Ausbeute in Nancy: 20 Kriegstagebücher, hunderte von Postkarten und Briefen von der Front und hunderte von Fotografien. "Nicht nur Brustbilder von Soldaten, auch Kampffotos von Kriegsschauplätzen in den Vogesen oder der Picardie, technisch oft von hoher Qualität", berichtet Peter. Eines der interessantesten zeige die vier Großonkel des heutigen Besitzers, von den Deutschen als Geiseln genommen in Blâmont, bei Lunéville. Zu den kuriosesten Gaben gehörte das Holzbein eines Veteranen, das dessen Enkelin dem Archiv schenken wollte. "Das lehnte ich aber", sagt Peter schmunzelnd.

Etwas geringer war die Resonanz beim Departements-Archiv Moselle in Metz. Es erhielt Zeugnisse von 30 Veteranen, neben Fotos, Plakaten, Landkarten, Feldpost, Tagebüchern auch komplette Fotoalben und seltene Gedenkbücher, die Regiments-Offiziere nach dem Krieg im Gedenken an die gefallenen Kameraden geschrieben hatte. Insgesamt aber sind das Hunderte von Dokumenten.

"In Moselle war die Situation ja speziell", sagt Archivar Jean-Eric Jung. Anders als die Lothringer in der Gegend um Nancy kämpften 90 Prozent der Mosellaner als Untertanen von Wilhelm II. im deutschen Heer. Und die Schwierigkeit sei hier heute, herauszufinden, ob jemand in einer preußischen, bayerischen oder auch sächsischen Einheit gedient habe. Mithilfe der Feldpost könne man nun etwa den Weg eines Moselle-Veteranen mit seinem Regiment von Leipzig zur Ostfront und zurück nach Mannheim nachvollziehen. "Wir sammeln hier auch Zeugnisse aus der Zeit nach 1918", erzählt Jung.

Die Mosellaner, die im Heer des deutschen Reiches gedient hatten, wurden genauso als Veteranen anerkannt wie die der französischen Armee, betont er. Und auf den Kriegerdenkmälern in der Moselle würden sie heute gemeinsam geehrt. "Es gab damals aber kuriose Fälle" weiß Jung. Etwa, dass ein Veteran, der bei den Deutschen gekämpft hat, hinterher die Tochter eines Leiters der Kriegsgräberfürsorge ehelichte, der der größte Anti-Deutsche des Viertels war.

Mehr Informationen findet man im Internet auf centenaire.org und www.europeana1914-1918.eu.

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