Reich sein in der Armut

Saarbrücken. Der Untertitel klingt vielversprechend: "Ein Roman über die Pariser Großstadtbohème". Einschlägige Szenen finden sich zwar tatsächlich in dieser Roman-Wiederentdeckung von 1924

Saarbrücken. Der Untertitel klingt vielversprechend: "Ein Roman über die Pariser Großstadtbohème". Einschlägige Szenen finden sich zwar tatsächlich in dieser Roman-Wiederentdeckung von 1924. Doch bilden sie eher den grellen Hintergrund, vor dem mit bitterer Ironie und beißendem Zynismus die Schattenseiten einer urbanen Lebensform gezeigt werden, die sonst in unzähligen Büchern und Filmen romantisiert wird. "Tugend und Größe gibt es nur in der Armut. Sobald man ein bisschen reich wird, sieht man nicht mehr klar", lässt Michel Georges-Michel seine Hauptfigur verkünden. Bündiger lässt sich die Haltung eines echten Bohemien nicht in Worte fassen. Um sich seine innere "Reinheit" zu bewahren, verachtet dieser hier so eindrucksvoll geschilderte Künstlertypus den Erfolg - und bezahlt dafür mit Elend. Auch Modrulleau verbringt seine Tage damit, im Keller eines Kunsthändlers für einen Hungerlohn täglich ein neues Meisterwerk zu produzieren.

In Georges-Michels Roman, dem Porträt einer ganzen Epoche, erlebt der Kubismus gerade seinen Hype, es ist die Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Im jungen Schweizer Verlag Walde+Graf ist das vergessene Werk, das 1958 sogar verfilmt wurde, in einer bibliophil gestalteten Neuausgabe erschienen. Ein großer Romancier war Georges-Michel nicht; immer wieder lässt er seine Figuren seitenlang über Kunst dozieren, um den Leser dann unvermittelt mit Szenen grotesker Gewalt wieder wachzurütteln. Aber er war ein intimer Kenner jener legendären Pariser Kunstszene, die Künstler und Intellektuelle aus der ganzen Welt anzog. Das Vorbild für seinen Protagonisten fand der 1985 mit 102 Jahren Verstorbene in Amedeo Modigliani, Zentralfigur der Pariser Kunstgemeinde, Freund Picassos.

Michel Georges-Michel: Die von Montparnasse. Ein Roman über die Großstadtbohème. A. d. Franz. von Marcus Seibert. Walde + Graf, 232 Seiten, 19,95 €

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