Poetry Slam - "Extremsport" der Dichter

Die Poetry-Slam-Texte sind meist sehr persönlich und emotional. Warum, denken Sie, reizt das die Teilnehmer?Endres: Es ist ein ganz enormer Adrenalin-Kick. Für mich geht das in die Richtung Extremsportart. Ich meine, warum macht man Bungee-Jumping? Weil man einen Adrenalin-Kick bekommt

Die Poetry-Slam-Texte sind meist sehr persönlich und emotional. Warum, denken Sie, reizt das die Teilnehmer?

Endres: Es ist ein ganz enormer Adrenalin-Kick. Für mich geht das in die Richtung Extremsportart. Ich meine, warum macht man Bungee-Jumping? Weil man einen Adrenalin-Kick bekommt. Und wenn man mit Lampenfieber und schlotternden Knien auf die Bühne geht und dann merkt, dass man einen Erfolg verbuchen konnte, das ist natürlich eine enorme Befriedigung. Klar, es ist frustrierend, wenn man sich zuerst überwunden hat und nachher merkt, dass der Text nicht gut ankommt. Da gibt es dann halt zwei Möglichkeiten: aufgeben oder weitermachen. Das ist wie im Sport. Aber es ist in jedem Fall eine super tolle Erfahrung, die ich auch jedem empfehlen kann.

Können Sie sich denn an Ihren ersten Vortrag erinnern?

Endres: Ja, das war ganz furchtbar. Ich hatte vor 20 Jahren einen Gedichtband mit sehr traditionell gereimten Gedichten geschrieben und war vorher noch nie bei einem Poetry Slam. Und dann wurde 2006 ein Poetry Slam veranstaltet, und ich habe gedacht, das ist so was mit Gedichten vorlesen. Als die Reihenfolge ausgelost wurde, kam ich dann auch noch als Erster an die Reihe. In dem Moment, in dem ich auf der Bühne saß, hatte ich überhaupt keine Ahnung, was da passiert. Ich habe meine Gedichte abgelesen, also so richtig abgelesen und damit den letzten Platz gemacht. Ich habe dann aber eingesehen: Das geht hier alles ein bisschen anders. Seitdem war ich dann auch regelmäßig dabei.

Inwiefern ist ein Poetry Slam "anders"?

Endres: Poetry Slam ist lebendiger als die traditionelle Dichterlesung. Es gibt Interaktion mit dem Publikum, durch den Wettbewerbscharakter geben sich die Teilnehmer besonders Mühe, durch die Zeitbeschränkung müssen die Texte sehr genau auf den Punkt gebracht werden. Man muss seine Nachricht rüberbringen und die Leute unterhalten. Oft gehört auch Provokation dazu. Poetry Slam ist einfach so eine Sache, dass es im Kopf irgendwo Klick macht und man denkt, Mensch das kann ich ja auch. Literatur ist nicht nur Goethe und Schiller, sondern das sind Leute, die meine Sprache sprechen, teilweise auch Ausdrücke verwenden, die ich in einem Aufsatz so nicht verwenden dürfte. Es ist eine Befreiung zu sagen: Hier darf ich das jetzt machen und kriege noch einen Applaus dafür.

Gibt es eine besondere Situation, die Ihnen im Gedächtnis geblieben ist?

Endres: Besonders ist es immer mit Francis Kirps, einem unserer Stamm-Slammer. Streng genommen macht er so ziemlich alles, was man bei einem Slam nicht machen sollte. Er liest vom Blatt ab, er verhaspelt sich, er bewegt sich kaum - er ist irgendwie ein Anti-Poetry-Slammer. Zusätzlich hat er diesen lustigen Luxemburger Akzent, der ihm einen sehr eigenen Charme verleiht. Das Publikum liebt ihn. Beeindruckt war ich, als Lukas Sparenborg aus Emden vor ein paar Jahren sich mit seinem Text "Abgeschotten" auf die Bühne gewagt hat. Es war ein abgrundtief depressiver Vortrag ohne einen einzigen Lacher darin, ohne Selbstironie. Er hat das Publikum damit richtig bewegt, obwohl eigentlich klar ist, dass ein lustiger Text eher das ist, was bei dem Publikum ankommt. Mich beeindruckt, wenn jemand seine Texte aus Überzeugung liest und nicht um dem Publikum zu gefallen. Das war wirklich klasse.

Auf einen Blick

Christoph Endres ist Mitgründer des Dichterdschungels und Veranstalter der Lesebühne, des Poetry Slams und Science Slams in der Camera Zwo. "Ein Poetry Slam ist ein Dichterwettstreit, bei dem das Publikum den Gewinner wählt." (Zitat Dichterdschungel) Alle Ausdrucksformen sind dabei erlaubt: Schreien, Flüstern, Rappen, Schauspielerei. Hilfsmittel allerdings, wie zum Beispiel Musikinstrumente, sind nicht erlaubt.

Drei Mal jährlich findet der Poetry Slam statt. Nächster Termin: Freitag, 19. Oktober, 20 Uhr, Eintritt sechs Euro. Vorverkauf: Kinokasse Camera Zwo. Weitere Informationen zu den Veranstaltungen gibt es auch im Internet.red

dichterdschungel.de

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