Interview mit Obdachlosen-Arzt Udo Bohr „Obdachlose erleben sehr viel Ablehnung“

Saarbrücken · Der Saarbrücker Arzt Udo Bohr beklagt fehlendes Verständnis für Menschen, die auf der Straße leben, und kritisiert die Wohnungspolitik.

 Dr. Udo Bohr behandelt seit zwölf Jahren Obdachlose in Saarbrücken.

Dr. Udo Bohr behandelt seit zwölf Jahren Obdachlose in Saarbrücken.

Foto: tau

Udo Bohr weiß, wie schnell Menschen auf der Straße landen können. Der pensionierte Internist kümmert sich in Saarbrücken um Obdachlose. Der 76-Jährige ist einer von acht Ärzten, die in der Praxis der Diakonie Saar in der Johannisstraße 4 ehrenamtlich arbeiten. Es ist die einzige Praxis für Wohnungslose im Saarland.

Herr Bohr, Sie behandeln seit zwölf Jahren Obdachlose. Warum haben Sie damals angefangen?

BOHR Ich wollte helfen. Aus der Zeit vor meiner Rente, als ich eine Praxis in Saarbrücken-Güdingen führte, wusste ich, wie schwer es für Obdachlose ist, zum Arzt zu gehen. Viele trauen sich nicht, die Hemmschwelle ist sehr groß.

Wie oft halten Sie Sprechstunden ab?

BOHR Die Sprechstunde ist immer Mittwochvormittag. Ich wechsele mich mit einem Kollegen ab, das heißt: Ich bin jede zweite Woche verantwortlich. Dazu kommen zusätzlich alle drei bis vier Wochen Notfälle irgendwo in Saarbrücken, unter Umständen auf der Straße oder unter einer Brücke. Die Sozialarbeiter der Diakonie rufen an, informieren mich, und ich fahre dann raus.

Mit welchen Beschwerden kommen die Obdachlosen zu Ihnen?

BOHR Atemwegsinfekte, Magen-Darm-Probleme, Hauterkrankungen, Verstauchungen, Verletzungen, Frakturen – es kommt alles vor, wie in einer normalen Arztpraxis. Oft jedoch mit einem höheren Schweregrad. Das hat damit zu tun, dass die Obdachlosen meist nicht gleich zum Arzt gehen. Schlimm sind vor allem Wunden. Es passiert oft, dass aus leichten Verletzungen über Monate hinweg riesige Geschwüre werden, die schließlich zu Thrombosen in den Beinen führen und lebensbedrohlich werden können. Das kann sogar bis zu einer Sepsis, also einer Blutvergiftung, führen. Diese Menschen zu behandeln, ist dann sehr aufwändig und schwierig.

Was war bisher Ihr schwerster Fall?

BOHR Uns suchte ein Patient mit Überlaufblase auf. Das bedeutet: Die Blase entleerte sich nicht mehr vollständig und es bestand ein ständiger unkontrollierbarer Urinfluss. Damit schleppte er sich mehrere Monate herum und musste immer Windeln tragen. Als er zu uns kam, war er sehr verwirrt. Es stellte sich heraus, dass es aufgrund der Überlaufblase mit ständigem Rückstau in die Nieren zu einer schweren Nierenschädigung mit lebensbedrohlichem Nierenversagen gekommen war. Nach einer Dialysebehandlung konnten wir den Patienten retten.

Was bekommen Sie von den Problemen Ihrer Patienten mit?

BOHR Sehr viel. Wir nehmen uns viel Zeit für Gespräche. Da wird dann klar, welche Verkettungen von Schicksalen dazu führen, dass die Menschen auf der Straße landen. Es beginnt oft relativ harmlos: mit dem Verlust des Arbeitsplatzes. Anschließend verschuldet man sich womöglich und schon werden die Probleme größer. Noch schwerer wird es, wenn einen der Partner verlässt. Nicht selten ist auch Alkohol im Spiel oder es entwickelt sich eine Depression. Dann geht es unter Umständen ganz schnell und die Wohnung ist nicht mehr zu finanzieren. Viele Leute können sich überhaupt nicht vorstellen, dass das in unserer Wohlstandsgesellschaft möglich ist. Die landläufige Meinung, dass Betroffene zu einem großen Teil selbst schuld sind, kann ich nicht nachvollziehen. Bei diesen Menschen kommt wirklich sehr vieles zusammen.

Sie arbeiten mit Sozialarbeitern zusammen. Wie wichtig ist deren Rolle?

BOHR Ohne die Sozialarbeiter wäre die Arbeit der Ärzte kaum möglich. Sie stellen die Kontakte zu den Patienten her. Wenn es darum geht, die Obdachlosen in die Gesellschaft zurückzuführen, leisten die Sozialarbeiter ohne Zweifel die Hauptarbeit. Und sie sorgen dafür, dass die Obdachlosen, die im Alltag sehr viel Ablehnung und Ausgrenzung erleben, sich wieder respektiert fühlen.

 Ein Mann sitzt auf dem Gehweg und bettelt um Geld. Mediziner Udo Bohr weiß, wie schwer es Obdachlose haben. Dazu kommt: Viele von ihnen trauen sich nicht zum Arzt – die Folgen können lebensbedrohlich sein.

Ein Mann sitzt auf dem Gehweg und bettelt um Geld. Mediziner Udo Bohr weiß, wie schwer es Obdachlose haben. Dazu kommt: Viele von ihnen trauen sich nicht zum Arzt – die Folgen können lebensbedrohlich sein.

Foto: dpa/Anne-Sophie Siemons

Was muss sich aus Ihrer Sicht ändern, damit es in Deutschland künftig weniger Obdachlose gibt?

BOHR Die Politik sollte zusehen, dass die Qualifizierung junger Menschen mehr gefördert wird. Denn ein beruflich Höherqualifizierter gerät seltener in Obdachlosigkeit. Darüber hinaus sollte die Wohnungssituation verbessert werden. Es gibt – und das ist kein Geheimnis – viel zu wenige bezahlbare Wohnungen. Auch im Saarland.

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