Neue Autismus-Theorie Der Junge, der sich zu den Alten setzte

Saarbrücken/München · Der aus Heiligenwald stammende Journalist Lorenz Wagner schrieb ein Buch über Star-Hirnforscher Markram und seinen autistischen Sohn.

 Eines von vielen Familienfotos, auf die Lorenz Wagner für sein Buch zurückgreifen durfte: US-Hirnforscher Henry Markram und sein autistischer Sohn Kai.

Eines von vielen Familienfotos, auf die Lorenz Wagner für sein Buch zurückgreifen durfte: US-Hirnforscher Henry Markram und sein autistischer Sohn Kai.

Foto: Familie Markram

Eigentlich hätte es eine Hirnforscher-Story werden sollen: Der US-Neurophysiologe Henry Markram hatte von der Europäischen Union (EU) die bislang höchste Fördersumme aller Zeiten bekommen, rund eine Milliarde Euro für sein „Human Brain Project“, den Nachbau des menschlichen Gehirns. Die Redaktion des Magazins der „Süddeutschen Zeitung“ meinte, Lorenz Wagner (48) sei der richtige Autor, um diese spektakuläre und spektakulär komplizierte Sache zu transportieren. Man setzte auf das narrative Talent des vielfach ausgezeichneten Journalisten.

2015 flog Wagner zu Henry, wie er den US-Forscher seitdem nennt, und brachte eine Geschichte mit, die ganz anders war als geplant. Keinen Wissenschafts-Krimi, kein Forscherporträt, sondern eine intensive Vater-Sohn-Geschichte, die ihn bis heute nicht mehr loslässt, weder beruflich noch privat. Und die, wie der Autor der „Saarbrücker Zeitung“ am Telefon berichtet, so viele Leserreaktionen auslöste wie keine seiner Geschichten je zuvor. Nicht mal das Exklusiv-Interview mit der reichsten Frau Deutschlands, der von einem Gigolo erpressten Quandt-Erbin Susanne Klatten, brachte ihm so viel Resonanz. Das war 2008. Spätestens danach gehörte Wagner, zuvor Chefreporter bei der Financial Times Deutschland (FTD), zur Upperclass der deutschen Journalisten.

Hierzulande kennt man ihn nicht, obwohl er saarländische Wurzeln hat und obwohl es den Autor, der in München lebt, regelmäßig ins Saarland zieht, zu den Eltern und zu seinen Geschwistern. Wagner ist in Heiligenwald geboren und aufgewachsen, machte in Neunkirchen Abitur, studierte Wirtschaft und französische Literatur, unter anderem in Nancy, danach ging’s zur Springer-Journalistenschule in Berlin und von dort zur Financial Times Deutschland (FTD). Also immer nach vorn und nach oben, bis hin zum Buchautor. 2018 entstand und erschien „Der Junge, der zu viel fühlte“. Bereits die dritte Auflage ist gedruckt, prominente Kritiker wie Christine Westermann (WDR) sorgen für Publicity. Irgendwie trifft Wagner wohl einen Nerv. Der Untertitel verspricht ein wenig reißerisch neue Erkenntnisse, er lautet:  „Wie ein weltbekannter Hirnforscher und sein Sohn unser Bild von Autisten für immer verändern“. Die Inklusionsgeschichte mit Happy End beruht auf Wagners Text „Der Sohn-Code“, den er nach seiner Reise zur Familie Markram, die in Lausanne lebt, fürs Magazin der „Süddeutschen“ verfasste. In diesem Beitrag beschrieb Wagner, wie Henry durch die autistische Erkrankung seines Sohnes Kai, der 1994 zur Welt kam, Demut gelehrt wurde. Denn er, der Hirnexperte, konnte Kai weniger helfen als das Liederbuch, aus dem er ihm vorsang. Wagners Text klärte auch darüber auf, wie falsch all das war, was die Ärzte den Eltern zunächst empfahlen, unter anderem, das Gehirn ihres Kindes zu stimulieren. Und der Text zeigte den Weg Markrams zu einer mittlerweile vielfach akzeptierten Autismus-Theorie auf, die, vereinfacht, Folgendes besagt: Autistische Gehirne sind höchst sensibel gegenüber Außenreizen und schirmen sich davor ab.

Markram stellte das gängige Modell auf den Kopf, das Autisten zu Mängelexemplaren stempelte, zu sozial defizitären Wesen ohne Empathie. In dieses Klischee passte sein Sohn Kai so ganz und gar nicht. Denn Kai verhielt sich genau anders, er war ein „hypersoziales“ Kind, ein netter kleiner Junge, der sich zu wildfremden alten Menschen auf die Bank setzte und sie streichelte. Heute ist Kai 24 und arbeitet als Wachschutz im Gericht. „Er wird gebraucht, nicht betreut“, wie Wagner festhält. Kai sorgt dafür, dass die Menschen im Gerichtssaal weniger aggressiv auftreten. Laut Wagner eine durch Experten gesicherte Tatsache: Menschen mit Behinderungen verändern das Klima in einem Raum, weil die anderen rücksichtsvoll und milder reagieren.

Ungewöhnlich lange wartete Wagners „Sohn-Code“-Artikel auf eine Veröffentlichung, er erschien Monate nach der ersten Recherche-Begegnung, 2017. Doch dann landete er unter den „Top Seven“ auf der Leser-Bestenliste des Magazins. Wie erklärt sich der Autor das? „Die Betroffenen und ihre Angehörigen freuen sich, wenn Autisten, anders als üblich, nicht als fehlerhaft geschildert werden. Man fühlt sich bestätigt und getröstet zu erfahren, dass die Überempfindsamkeit nicht Symptom eines Mangels, sondern die Ursache der Störung ist.“ Sprich: Das unangepasste, provokante Verhalten vieler Autisten ist eine Schutzreaktion, denn sie leben mit einem Gehirn ohne Reizfilter und erleben die Welt als feindlich, wie einen Angriff. Permanent. Ohne Aussicht auf Besserung. Deshalb sagt Wagner: „Autisten haben keine Krankheit, die man heilen kann. Sie wollen so akzeptiert werden, wie sie sind.“

Das Besondere an seinen Veröffentlichungen über Autismus liegt auch darin, dass Wagners Held ausnahmsweise mal keiner der inselbegabten Asperger-Autisten ist, der es zu Professoren-Ehren bringt. Sondern ein Durchschnittsjunge, so individuell wie jeder andere Junge auch. „Wer einen Autisten kennt, kennt genau einen und nicht alle“, heißt es im Buch. Wagner möchte dazu anregen, „im Umgang mit den Autisten wegzukommen vom Leistungs- und Wunderkind-Denken“.

Ohne Zweifel gibt es aber auch noch einen anderen Grund für die Zustimmung, auf die das Buch laut Wagner stößt: Er kann richtig gut schreiben. Sein Buch ist effektvoll komponiert, bietet eine kurzweilige Fülle unterschiedlicher Stil- und Darstellungsformen und wagt raffinierte Zeitsprünge. Wagner verwebt die Biografie und Karriere von Henry mit intimen Familien-Skizzen oder bringt populärwissenschaftliche Passagen zur Hirn- und Autismusforschung mit vermeintlich dokumentarischen Reportage-Beobachtungen in Schwingung. Obwohl Wagner wie ein fiktionaler Erzähler über Dinge berichtet, die er nicht selbst miterlebt hat, verliert die Story nirgends ihre journalistische Wahrhaftigkeit. Wagner erklärt die vielen lebensnahen Details mit dem engen Kontakt und mit dem Vertrauensverhältnis, das er zur Familie aufgebaut hat, zu Kais Schwestern ebenso wie zu Henrys zweiter Frau. „Ich habe mich nach meiner ersten Recherche auch privat dafür interessiert, wie es ihnen geht, blieb im Gespräch mit ihnen. Die Geschichte war nicht abgeschlossen.“

Auch persönlich habe er profitiert: „Mir wurden erstmals die Augen geöffnet für Menschen, die anders sind. Wir müssen mit ihren Stärken umgehen, Autisten vermissen das.“ Henry und Kais Familie hätten dies geschafft und vorgemacht, nachdem sie anfänglich noch falschen Therapie-Pfaden der Desensibilisierung folgten. Wagner: „Sie versuchten irgendwann nicht mehr, Kai in ihre Welt zu ziehen, sondern haben sich angestrengt, um Zugang zu seiner Welt zu finden.“

Versteht die Autisten! – diese Umkehr im Denken möchte Wagner befördern. Missionarischer Eifer schwingt da zweifelsohne mit. Zumal Kai im Buch zwar als ein wunderliches, schwieriges Kind, aber doch als Sonnenschein geschildert wird. Ausraster und Bockigkeiten serviert Wagner meist mit Witz. Hat er eine rosarote Brille auf? Wagner rückt diesen Eindruck zurecht: Er habe nun mal eine Botschaft an uns alle. Sie decke sich mit dem Rat an die Familie, den Kais Ärztin Lynda formulierte, als sie 1999 die Ungewissheit beendete und statt ADHS Autismus diagnostizierte. Er lautete: „Seid nett! Seid nett! Seid nett!“

Am 2. Februar 2019 findet eine Buchvorstellungs-Matinee im Saarland statt, zu der der Landesverband für Menschen mit Autismus e.V. einlädt. Ort: Bildungszentrum der Arbeitskammer, Kirkel, ab 10  Uhr. Anmeldung unter Tel: 06831 89007-0; mail@autismuszentrum-saar.de

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort