Interview Gisa Aschersleben „Kinder unter drei Jahren leiden nicht unter der Haft“

Saarbrücken · Die Mutter-Kind-Haft ist allerdings nicht immer ideal, meint die Saarbrücker Professorin für Entwicklungspsychologie. Auch nicht für Mesale Tolus Kind.

 Entwicklungspsychologin Gisa Aschersleben.

Entwicklungspsychologin Gisa Aschersleben.

Foto: Jörg Pütz/ Uni Saarbücken

In Deutschland gibt es zehn Einrichtungen, in denen Mütter gemeinsam mit ihren Kleinkindern ihre Haftstrafe verbüßen können. Diese Unterbringungsform ist nicht unumstritten. Wir sprachen darüber mit der Professorin Gisa Aschersleben. Sie lehrt Entwicklungspsychologie an der Saarbrücker Universität.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter hat bereits 1986 darauf verwiesen, dass die Trennung eines Kindes von seiner Bezugsperson – also meist der Mutter – in den ersten Lebensjahren der Persönlichkeitsentwicklung schaden kann. Gibt es zwischenzeitlich gesicherte Forschungserkenntnisse?

ASCHERSLEBEN Ja. Wichtig ist für das Kind in diesem Zusammenhang nicht zwingend die Mutter. Ausschlaggebend ist, dass das Kind von Geburt an konstant eine primäre Bezugsperson hat. Das kann auch eine Pflegefamilie sein. Werden Mütter und Kinder in einer Haftanstalt untergebracht, ist es aber oft so, dass die Kinder bereits ein oder zwei Jahre mit ihrer Mutter verbracht haben. Dann ist eine Trennung natürlich extrem schwierig und nicht ratsam.

Wie sehen Sie das für Neugeborene, die von der Mutter getrennt werden?

ASCHERSLEBEN Wenn man so etwas macht, dann bei der Geburt und sofort. Das Kind sollte umgehend in eine Situation, in der eine intensive Bindung zu einer anderen Person entstehen kann.

Die Mütter kehren aber nach der Haft wieder, dann bieten Pflegefamilien doch auch nur eine Lebenspartnerschaft auf Zeit?

ASCHERSLEBEN Es gibt Pflegefamilien, die die Kinder bis zum Erwachsenenalter betreuen. Solche Familien können Eltern vollkommen ersetzen, selbst wenn Kinder wissen, es gibt da noch Vater und Mutter. Die leiblichen Eltern sind dann ebenfalls Bindungspersonen, aber nicht die allerwichtigsten. Das mag für die Eltern unangenehm sein, für die Kinder ist es sinnvoller.

Sie kratzen damit am Selbstverständnis der Eltern, vor allem am Mythos Mutter.

ASCHERSLEBEN Ja. Ich habe viele Vorträge darüber gehalten. Es hieß danach oft: Aber die Mutter muss doch zuhause bleiben, sie muss das Kind betreuen. Ich sage dann: Nein, es muss nicht die Mutter sein.

Macht man Kinder, die mit ihrer Mutter in Haft sind, nicht ungewollt zu Mitgefangenen?

ASCHERSLEBEN In den ersten drei Jahren sehe ich das nicht als problematisch an. Allerspätestens mit der Einschulung ist es anders. Wobei ich mich nicht zu einer generellen Aussage verleiten lassen möchte, man muss jeden Einzelfall anschauen. Wenn das Kind beispielsweise in einen Kindergarten geht, der in der Nähe der Haftanstalt liegt, und das Kind dort wunderbar eingebunden ist, soll es gerne lange bei der Mutter bleiben. Wenn so etwas nicht möglich ist, kann es besser sein, das Kind früher heraus zu nehmen.

In der Türkei scheint es üblich, dass Mütter mit Kindern gemeinsam in Haft sind. Ist das fortschrittlich?

ASCHERSLEBEN Das Kind von Mesale Tolu war schon zwei Jahre alt, als die Mutter ins Gefängnis kam. Die Zukunft ist aber ungewiss, das ist ein wichtiger Punkt: Wenn man weiß, die Mutter ist nur eine relativ kurze Zeit im Gefängnis, dann spricht vieles dafür, dass das Kind bei der Mutter bleiben kann. Wenn ich weiß, es dauert fünf bis zehn Jahre, sieht es anders aus. Vor allem muss ich die Haftbedingungen berücksichtigen. Man liest, es gibt in der Haft von Frau Tolu keine angemessene Ernährung, keine Spielsachen, der Vater ist ebenfalls im Gefängnis. Wenn es womöglich fünf Jahre Untersuchungshaft für Frau Tolu werden, ist das eine gruselige Vorstellung. Unter diesen Umständen muss man wohl, so Leid es einem tut, sagen: Das Kind wäre besser bei Verwandten aufgehoben.

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