Es fehlen Raufen und Risiko"Mädchen sind tendenziell braver und ruhiger"Ein Beispiel: M. führt sich auf wie im TV die Macho-Männer

Der weitaus überwiegende Teil der Lehrkräfte an saarländischen Grundschulen sind Lehrerinnen, nur 16 Prozent des Lehrpersonals ist männlich. Ist das ein Nachteil für die Jungs, weil ihnen in der Grundschule die "männliche" Erziehung fehlt? Der Wallerfanger Diplompädagoge und angehende Psychotherapeut Florian Junge untersuchte das Thema in seiner Diplomarbeit

Der weitaus überwiegende Teil der Lehrkräfte an saarländischen Grundschulen sind Lehrerinnen, nur 16 Prozent des Lehrpersonals ist männlich. Ist das ein Nachteil für die Jungs, weil ihnen in der Grundschule die "männliche" Erziehung fehlt? Der Wallerfanger Diplompädagoge und angehende Psychotherapeut Florian Junge untersuchte das Thema in seiner Diplomarbeit. Sein Ergebnis: Jungen wünschen sich mehr Lehrer an Grundschulen. Da man die aber nicht aus dem Hut zaubern kann, wäre es zumindest angebracht, Lehrerinnen in "jungenpädagogischen Kompetenzen" zu schulen. Denn Frauen, beziehungsweise Lehrerinnen agieren mit geschlechtstypischen Verhaltensweisen, weiblichen Kommunikationsstrukturen und zum Teil auch mit weiblichen Lehrmethoden im Unterricht. Dies alles hat Auswirkungen auf die männlichen Schüler und (womöglich) auch auf deren Lernerfolge.Der schon lange herrschende Männer-Mangel an Grundschulen bleibe jedenfalls nicht ohne Folgen. Laut unterschiedlichen Studien sei dies mit ein Grund, dass Jungen eher zu den "Bildungsverlierern" unseres Schulsystems gehören: Jungen fallen unter anderem durch schlechtere Bildungsabschlüsse, unterdurchschnittliche Noten und auffällig normabweichende Verhaltensweisen auf.

Wo liegen die Ursachen? Florian Junge ließ in seiner Diplomarbeit Jungen, die ausschließlich von Lehrerinnen unterrichtet werden, selbst zu Wort kommen. "Den befragten Jungen fehlt es an Bewegungs- und Aktionsräumen, die ihrer Abenteuerlust und ihrem Bedürfnis nach Entdecken genügen. Sie wollen nicht von Konfliktvermeidungsstrategien, übersteigerter Vorsicht und dem Willen nach Harmonie eingeengt werden. Sie wünschen sich mehr technische und naturwissenschaftliche Lerninhalte."

Ein weiteres Ergebnis der Studie: "Die feminisierte Grundschule wird von Jungen als eine Kooperation der Frauen empfunden. Die Jungen wünschen sich eine 'Interessenvertretung', die ihrem Wunsch nach Raufen, Toben und Spielen gerecht wird, und die sie in ihrer Männlichkeit und in ihrem Junge-Sein anerkennt. Männliche Lehrer, so meinten die Jungen, könnten diese Bedürfnisse besser nachvollziehen und ihnen ein besseres Verständnis entgegenbringen."

Und wie soll der "Wunschlehrer" aussehen? Er soll freundlich sein, Humor und Witz zeigen, Regeln aufstellen und auch konsequent einhalten, er soll mit sportlichem Auftreten durchaus auch kleine Risiken eingehen, er soll aktiv am Unterrichtsgeschehen teilnehmen und so den Bedürfnissen der Jungen entsprechen.

Sind Lehrerinnen damit bei Jungs "out"? "Ganz im Gegenteil", erklärt Florian Junge, denn: "Die befragten Schüler schätzen viele Eigenschaften der Lehrerinnen. Optimal für sie wäre der Unterricht in der Grundschule mit Lehrkräften beiderlei Geschlechts."

Und Junge schlussfolgert: Dass Jungs im Vergleich zu Mädchen "Bildungsverlierer" sind, liegt keineswegs nur an fehlenden Grundschullehrern. Vielmehr gibt es eine Reihe verschiedener Ursachen dafür, dass die "Bildungserfolge" von Jungs schlechter als die der Mädchen sind, wie zum Beispiel die erwähnten mangelnden Bewegungs- und Aktionsräume oder die Lehrplangestaltung. Außerdem gebe es das Fehlen männlicher Erziehung ja keineswegs nur an Grundschulen. Schon in den Kindertagesstätten sind männliche Erzieher Mangelware, und auch im häuslichen Bereich fehlt immer öfter der Familienvater.

Trotz der weiteren Ursachen sieht Junge aber auch Handlungsbedarf für die Grundschulen: "Der Anteil männlicher Lehrer an Grundschulen muss gesteigert und gleichzeitig die großen Vorteile weiblicher Pädagogik für die Jungen genutzt werden", meint der Diplompädagoge. Bis mehr Lehrer rekrutiert sind, rät er als Sofortmaßnahme: Lehrerinnen umfassend in geschlechtssensiblen und jungenpädagogischen Kompetenzen fortzubilden und sie durch den Einsatz männlicher Schulsozialarbeiter zu unterstützen. "Damit könnte sich die schulische Struktur geschlechtergerecht weiterentwickeln und die Forderung nach mehr männlichen Pädagogen unter voller Nutzung der Vorteile weiblicher Lehrkräfte erfüllt werden. Dies sollte als Baustein in der aktuellen Entwicklung zur Ganztagsgrundschule berücksichtigt werden."

Ein Blick in die Praxis des Schulalltags: Wir wollten von Grundschullehrern wissen, ob sie ebenfalls einen Mangel an männlichen Lehrern sehen.

Der 44-jährige Grundschullehrer Jürgen Meyer aus Riegelsberg kann die empirischen Erhebungen und Schlussfolgerungen des Wallerfanger Diplompädagogen bestätigen: "Ja, es stimmt: Mädchen sind tendenziell braver und ruhiger als Jungen, zumindest beobachte ich dies aus meiner Perspektive als männliche Lehrkraft. Ich glaube aber nicht, dass das Geschlecht der Schüler zu einer Bevorzugung oder Benachteiligung führt. Schließlich haben wir seit Pisa eindeutige Vorgaben für die Benotung. Seitdem hat sich die Benotung eher vereinheitlicht. Meiner Beobachtung nach sind Mädchen jedoch reifer als Jungen. Dies macht sich besonders ab dem dritten Schuljahr deutlich bemerkbar. Ein Grundschultag mit fünf Stunden Unterricht ist für die Schüler sehr anstrengend, das erfordert von den Kindern schon viel Disziplin. Darin sind die Mädchen eher im Vorteil. Die besseren Noten der Mädchen haben meiner Meinung nach deshalb eher was mit ihrem Entwicklungsstand und weniger mit weiblichen Lehrkräften zu tun."

Die 36-jährige Grundschullehrerin Andrea Baltes aus Schwalbach sagt: "Mehr männliche Lehrkräfte in Grundschule und Kindergarten wären ein Gewinn. Es treten immer wieder Fragen oder Probleme auf, die aus 'männlicher' Sicht, beziehungsweise 'von Mann zu Mann' anders oder eventuell auch besser zu lösen wären. Einige Kinder, zum Beispiel Scheidungskinder, erleben unter Umständen die männliche Komponente in ihrer Erziehung nicht oder nur teilweise. Gerade für diese Kinder wäre der männliche Lehrer als Bezugsperson von großer Bedeutung. Oftmals wäre es auch organisatorisch praktischer, mehr männliche Kollegen im Kollegium zu haben, zum Beispiel bezüglich männlicher Begleitpersonen bei Klassenfahrten oder Schwimmbadbesuchen. Mehr männliche Lehrkräfte an Grundschulen wären nicht nur für die Jungen, sondern gleichermaßen für die Mädchen wichtig".

Der pensionierte Grundschullehrer Klaus Vollmann-Lohrig aus Kutzhof sieht im Lehrverhalten weiblicher und männlicher Lehrkräfte an Grundschulen gravierende Unterschiede, ganz deutlich erkennbar im Sportunterricht. "Lehrerinnen bevorzugen eher gymnastische Übungen, lieben Tanz, Seilhüpfen oder das Spielen mit Bändern. Jungen mögen das weniger. Lehrer hingegen bieten Ballsportarten an, wie Fuß-, Hand-, Volley-, Völker-, Basketball oder Hockey. Sie ringen, sie boxen, sie raufen. Hierbei kommen Mädchen zu kurz. Lehrer machen Reaktionsspiele, lieben Wettkampfspiele, wohingegen Lehrerinnen öfter Gemeinschafts-, Harmonie- und Eleganzspiele bevorzugen", zieht der 71-Jährige nach 40 Berufsjahren Bilanz. Seine Forderung: Eine Männerquote. Die Lehrerstellen sollten je zur Hälfte von Männern und Frauen besetzt sein, damit Mädchen und Jungen die Vorzüge beider Lehrverhalten zugute kämen. mj

Die Untersuchungsergebnisse seiner Diplomarbeit sieht Florian Junge nach seiner rund zweijährigen psychotherapeutischen Praxiserfahrung bestätigt. Ein Beispiel unter vielen ist der neunjährige Grundschüler M.

Der Drittklässler wächst bei seiner alleinerziehenden Mutter auf. Seine Schule hat ihm kürzlich erneut mit dem Schulverweis gedroht, da er im Unterricht als Unruhestifter und Störenfried auffällt. Er lässt sich von seiner Grundschullehrerin nichts sagen, widerspricht ständig, hält sich an keine Regeln, wirft mit Schimpfwörtern um sich, malträtiert seine Mitschüler.

Die Mutter des Jungen ist verzweifelt. Sie weiß sich selbst oft keinen Rat, wie sie ihrem Sohn beikommen soll. Auch der Junge selbst ist verzweifelt. Er sieht, dass seine Mitschüler ihn meiden. Viele haben Angst vor ihm und seiner Unberechenbarkeit, seinen Wutausbrüchen, seinem Drauf-Los-Schlagen. Die Schulleitung empfiehlt seiner Mutter schließlich, sich professionelle Hilfe bei einem Psychotherapeuten zu suchen. Er soll den aggressiven und oppositionellen Verhaltensweisen des Neunjährigen auf den Grund gehen.

"Offenbar stellt der Mangel an Männern in seiner alltäglich erfahrbaren Umgebung M. vor gravierende Probleme in seiner Identitätsfindung. M. kennt nur das Männerbild, das ihm im Fernsehen und von seinen Computerspielen vermittelt wird", erklärt Florian Junge. "Für M. sind Männer stark, aggressiv, heroisch, kämpferisch. Seine schlechten Schulleistungen und die ständigen Ermahnungen durch seine Lehrerin frustrieren ihn. Er spielt in der Schule das medial erlernte männliche Rollenklischee von Stärke und Dominanz nach. Seine Handlungsweisen - also raufen, streiten, stören - erscheinen ihm logisch, Alternativen erfährt er keine. Eine stärkere Präsenz von Männern in unserem Bildungssystem könnte diesen Verhaltensmustern positiv entgegentreten." mj

Zur Person

Der 30-jährige Wallerfanger Florian Junge hat an der Trierer Universität Diplom-Pädagogik studiert und beschäftigte sich in seiner Diplomarbeit mit der Thematik "Männlichkeit im Grundschulalter im Hinblick auf die Feminisierung des Bildungswesens". Zurzeit absolviert Junge eine dreijährige Fachausbildung zum Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten an der Akademie für Psychotherapie und Interventionsforschung der Universität Potsdam. mj

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