Bodybuilding Ein Löwe mit nur einem Bein

Neunkirchen · Muskeln aus Stahl und eine Prothese aus Titan: Der Blieskasteler Juri Schlegel hat sich trotz Behinderung einen Lebenstraum erfüllt. Und das Ergebnis hat es in sich.

 Die Beinprothese ist für ihn kein Hindernis: Bodybuilder Juri Schlegel beim Training im Sportpark AC1 von Dietmar Bär in Neunkirchen.

Die Beinprothese ist für ihn kein Hindernis: Bodybuilder Juri Schlegel beim Training im Sportpark AC1 von Dietmar Bär in Neunkirchen.

Foto: Iris Maria Maurer

Ein Löwe vertilgt sieben bis zehn Kilogramm Fleisch am Tag. Juri Schlegel bringt es auf vier Kilo, wenn er Diät hält. Nur nicht roh, sondern gekocht. Meistens Geflügel, manchmal Fisch. Der König der Tiere ist er nicht. Aber der König des AC1 Fitnessstudios in Neunkirchen. Denn das ist sein zweites Zuhause. Der schwarze Trainingsanzug bedeckt an diesem Tag seinen Körper. Der Brust-Ausschnitt seines T-Shirts lässt erahnen, was sich unter der Kleidung versteckt. Muskelberge. Pralle Körperwölbungen. Jede Sehne, jede Ader zeichnet sich ab. Nur das linke Bein sieht anders aus. Starr. Schmal. Titan und Carbon wachsen nun mal nicht. Egal, mit wie viel Gewicht man sie belastet. Die Prothese.

Juri Schlegel kam vor 49 Jahren in Kasachstan zur Welt – mit nur einem Bein. An ein Leben ohne Prothese erinnert er sich nicht. „Sie war immer da“, sagt er. Sein Bruder, Trainer der Ringer, bringt Schlegel dennoch in den Ring. Wettkämpfe darf er nie bestreiten. Zu hoch ist das Verletzungsrisiko für ihn und seine Gegner durch die künstliche Stütze. Mit zwölf Jahren beginnt Schlegel, sich für Bodybuilder zu begeistern. „Meine Kameraden haben sich Poster von hübschen Frauen an die Wände gehangen. Ich immer nur von Bodybuildern“, erzählt er mit Akzent und lacht. Er wollte werden wie sie. Und hat es geschafft. Der Weg dahin war lang und zäh. Mit 28 Jahren kommt Schlegel nach Deutschland. Schon bald meldet er sich in Dietmar Bärs Fitnessstudio an. Trainiert unter seinen Augen. Nach seinen Trainings- und Ernährungsplänen. Schlegel arbeitet hart am perfekten Körper. Der sieht für einen Bodybuilder anders aus als das herkömmliche Schönheitsideal. „Egal, wie viel man gibt, es ist immer zu wenig“, sagt Schlegel. Doch wer seit 40 Jahren seinen Körper quält – der hat Willenskraft. „Viele haben nur die Disziplin, um eine Saison durchzuhalten“, erklärt Trainer Bär. Nach zwei Jahren verschwinden sie wieder von der Wettkampf-Bühne. Bei Schlegel ist das anders. Mit 49 Jahren denkt er nicht daran, aufzuhören: „Ich liebe diesen Sport.“

Um König zu sein, kämpft er täglich. An den Gewichten und am Herd. Denn zu 80 Prozent führe die richtige Ernährung zum Erfolg. Besonders hart wird sie 16 bis 18 Wochen vor einem Wettkampf. Wenn das Wasser aus dem Körper muss. Damit der Stoffwechsel richtig funktioniert, muss Schlegel fünf bis sechs Liter Wasser täglich trinken. In der heißen Phase, drei bis vier Tage lang, sind es sogar zwölf Liter täglich, erzählt er. Die Nieren arbeiten pausenlos. Eine Toilette muss in dieser Zeit immer in der Nähe sein. Dann trinkt er wieder weniger Wasser, „bis der Körper fast dehydriert“. Die Haut wird dünn wie Pergament, die Muskeln zeichnen sich ab. So wollen sie aussehen, die Bodybuilder.

Für den Körper sind es Strapazen. „Deswegen macht man in der Regel nur eine Wettkampfsaison, im Frühjahr oder Herbst“, erklärt Schlegel. Sein Körper darf sich gerade erholen. Das heißt für ihn, auch mal mit seiner Frau zu kochen. Aber meistens bereitet sich Schlegel morgens seine sechs Mahlzeiten vor. Nimmt sie mit zur Arbeit. Schlegel ist Materialprüfer, arbeitet bei der Firma Bosch in Homburg. Gerade bringt der 1,67 Meter große Mann 90 Kilo auf die Waage. Wenn Wettkämpfe anstehen, verliert er über 20 Kilogramm. In der Ruhepause ist er nur jeden zweiten Tag im Studio. In der Vorbereitung an sechs Tagen in der Woche. „Viele entdecken seine Prothese erst in der Umkleidekabine“, erzählt Bär. Verstummen. Ziehen den Hut vor ihm. Mehrere deutsche Meistertitel hat der Mann aus Blieskastel schon gewonnen, auch internationale – in Handicap-Klassen, aber auch in den Standard-Klassen. „Dietmar hat mich zum Gewinnen gebracht“, sagt Schlegel stolz. Über seine Behinderung redet er ganz offen. Warum auch nicht? Sie hat ihn zu dem gemacht, was er seit 40 Jahren ist. Ein Kraftpaket. Ein Löwe. Ein König. Mit nur einem Bein. Aber genau das machte ihn stark. Gab ihm den Antrieb, den Rest seines Körpers noch gewaltiger werden zu lassen. Bevor Schlegel an die Gewichte geht, wechselt er seine Alltags-Prothese gegen eine härtere Sport-Ausführung ein. Schließlich muss sie einiges aushalten. Einmal hat sie versagt.

Schlegel stemmte eine 200 Kilogramm schwere Hantelstange. Da machte es Krach. Die Kunststoff-Schiene, die den Unterschenkel ersetzt – gebrochen. 200 Kilo Eisen donnerten zu Boden. Keine Verletzungen. Gerade nochmal gut gegangen. „Wir wissen halt nicht, ob die Schienen so lange mitmachen“, erzählt Schlegel. Doch das bringt ihn nicht aus der Ruhe. Er vertraut seinem Körper.

Den Ernährungs-Wahnsinn, dem er sich seit 40 Jahren unterzieht, ahnt man nicht. Er wirkt zufrieden und gelassen. „Wenn ich in den Spiegel schaue, weiß ich, wofür ich all das tue.“ Auf der Wettkampfbühne glänzen die geballten Muskeln beschmiert mit brauner Farbe im Rampenlicht. Die Tattoos auf Schlegels Armen sind dann kaum noch zu erkennen. Seine schwarze Löwenmähne zum Zopf gebunden. Er grinst. Der Löwe erspäht seine Beute. Rechts und links von ihm auf der Bühne. Bereit zum Angriff. Die Zweibeiner können einpacken.

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