Interview mit Jo Leinen „Die Welt ist heute ein globales Dorf“

Saarbrücken · Der Europa-Abgeordnete Jo Leinen wirbt in einem neuen Buch für ein Weltparlament. Es soll die großen Menschheitsprobleme lösen. Wie realistisch ist das?

 Auf Weltebene sollten nach Ansicht von Jo Leinen zum Beispiel Beschlüsse zum Klimaschutz getroffen werden können.

Auf Weltebene sollten nach Ansicht von Jo Leinen zum Beispiel Beschlüsse zum Klimaschutz getroffen werden können.

Foto: dpa/NASA Goddard Space Flight Center

Auf 450 Seiten hat der saarländische Europa-Abgeordnete Jo Leinen (69) eine „kosmopolitische Vision“ vorgelegt, wie der Untertitel seines neuen Buches lautet. Darin wirbt der SPD-Politiker für ein demokratisches Weltparlament, das Probleme von globaler Tragweite lösen soll. Eine Träumerei? „Ohne visionäres Vorausdenken wäre in der Menschheitsgeschichte nicht viel zustande gekommen“, liest man in der Einleitung. Leinen spricht von einem Standardwerk, das bald auch in englischer Sprache erscheinen wird. Co-Autor ist Andreas Bummel, Leiter der internationalen Kampagne für ein Parlament bei der Uno.

Herr Leinen, sind Sie ein Träumer?

LEINEN Ich bin sicher, dass im 21. Jahrhundert globale Demokratie auf der Tagesordnung stehen wird. Die Welt ist heute ein globales Dorf, viele Probleme betreffen die ganze Menschheit. Deshalb wird der Zeitpunkt kommen, an dem man ein Weltparlament braucht, um die großen Probleme offen und demokratisch zu besprechen und zu entscheiden.

Das mag sein, aber wie realistisch ist das?

LEINEN Die Idee einer zweiten Kammer bei den Vereinten Nationen neben der Generalversammlung der Regierungen gewinnt in den letzten Jahren enormen Zuspruch. Das sieht man nicht so bei uns in Europa, aber in Lateinamerika, in Afrika und Asien ist der Ruf laut geworden, dass auch die Parlamente eine Stimme in der Weltpolitik haben sollten.

Damit dieses Gremium mehr ist als bloß eine Quasselbude, müsste es Kompetenzen haben. Woran denken Sie?

LEINEN Ähnlich wie das Europäische Parlament in den 50er Jahren als beratende Versammlung begonnen hat, würde auch ein Weltparlament zunächst beraten und überprüfen, zum Beispiel: Die Uno verwaltet viele Milliarden Euro, für die Welthungerhilfe, für Militär- und Friedenseinsätze. Da kann man viele Fragen stellen, ob es gut und effektiv ausgegeben wird. Natürlich hätte das Parlament auch Informations- und Fragerechte. Ich erhoffe mir dadurch eine neue Dynamik für die Diskussion über Menschheitsprobleme und deren Lösung. Im Moment steckt die Uno in einer Sackgasse.

Damit eine solche Versammlung die großen Menschheitsprobleme tatsächlich lösen könnte, müssten Nationalstaaten Kompetenzen zum Beispiel in der Sozial-, Entwicklungs- oder Verteidigungspolitik an die Uno abgeben. Glauben Sie ernsthaft, dass die Staaten dazu bereit wären?

LEINEN Man muss darüber diskutieren, ob bei existenziellen Fragen des Planeten Erde und der Menschheit nicht auch eine Übertragung von Kompetenzen auf die Weltebene nötig ist. Die Folgen des Klimawandels werden alle Teile der Welt betreffen. Dort könnte man sich vorstellen, dass auf Uno-Ebene Beschlüsse gefasst werden über das Kohlenstoff-Budget, das jedes Land hat und wie es reduziert werden muss. Wir brauchen auch ein weltweites Grundgesetz für die Handhabung des Internets. Dort lauern so viele Gefahren, dass nur eine globale Regelung zufriedenstellend ist. Die Liste ließe sich weiterführen über eine Weltwasserpolitik oder eine Welternährungspolitik, ich könnte sehr leicht ein Dutzend Mega-Themen nennen, bei denen ein Regelungsbedarf auf globaler Ebene vorhanden ist.

Der Trend geht gerade aber in eine völlig andere Richtung. Die USA ziehen sich aus der globalen Klimapolitik zurück, auch in der EU will kaum noch jemand Kompetenzen nach oben abgeben.

LEINEN Im Moment haben wir in der Tat eine Phase der Re-Nationalisierung, die Einschaltung des Rückwärtsgangs, was internationale Politik angeht. Das wird aber nicht von langer Dauer sein, weil der Leidensdruck in der Welt bei den großen Themen zunimmt. Auch ein Donald Trump wird höchstens acht Jahre an der Regierung sein.

Die Mitglieder des Parlaments sollen aus allgemeinen, gleichen und freien Wahlen hervorgehen. Das ist ziemlich kühn, wenn man sich Staaten wie Russland, China oder Syrien anschaut. Da funktioniert die freie Wahl nicht mal auf nationaler Ebene.

LEINEN Ein Weltparlament muss man sich in mehreren Stufen vorstellen. Das würde beginnen mit der Delegation von Abgeordneten aus den nationalen Parlamenten, egal wie sie gewählt wurden. Zu einem späteren Zeitpunkt kann man sich Direktwahlen vorstellen. In der Tat muss man weltweit auch Abstriche machen, weil nicht alle 195 Länder, die Mitglied der Uno sind, lupenreine Demokratien darstellen. Die Hoffnung bleibt, dass in einem solchen Prozess auch Lerneffekte entstehen und Fortschritte bei der Demokratisierung rund um den Globus stattfinden.

Warum sollten die Regime dieser Staaten wollen, dass ihr Land an einem Weltparlament beteiligt ist?

LEINEN Wer die Uno-Charta liest, entdeckt den Artikel 22. Darin ist geregelt, dass die Generalversammlung mit einfacher Mehrheit eine neue Uno-Einrichtung beschließen kann. Ich bin optimistisch, dass es in naher Zukunft eine Mehrheit der Länder gibt, die eine parlamentarische Versammlung wollen. Viele sehen doch, dass es eine zunehmende Entfremdung der Menschen von den Beschlüssen in Gremien wie den G20 oder auch der Uno im fernen New York gibt.

Die Europäer wären in einem Weltparlament eine kleine Minderheit, die Asiaten hätten immer die Mehrheit.

LEINEN Ich bin sehr optimistisch, dass in einem Parlament nicht die nationale oder kontinentale Zugehörigkeit den Ausschlag gibt, sondern die politische und ideologische.

Trotz der großen Unterschiede zwischen den Kontinenten? Schon in Europa verlaufen die Konflikte doch häufig nicht zwischen politischen Richtungen, sondern zum Beispiel zwischen Nord und Süd.

LEINEN Es gibt in jedem Land unterschiedliche Ansichten und Interessen. In einer Parlamentarischen Versammlung würden sich sehr schnell Konservative, Progressive, Grüne oder Liberale zusammenfinden, da hätte ich überhaupt keinen Zweifel.

Zum Schluss eine Prognose: Wann, glauben Sie, wird Ihre Vision Wirklichkeit werden?

LEINEN Der neue Uno-Generalsekretär António Guterres hat in seiner Antrittsrede einen Reformbedarf der Uno angemeldet. Diese Debatten werden jetzt kommen. Die Uno kann so nicht noch zehn Jahre weitermachen. Der Druck wird wachsen aus vielen Ecken der Welt. 1500 Parlamentarier haben bereits einen Aufruf unterschrieben, auch Regierungen, zum Beispiel die der Schweiz, Norwegens und Kanadas. Das Europäische Parlament hat sich mehrfach dafür ausgesprochen, das afrikanische und das lateinamerikanische Parlament ebenfalls.

Und in Deutschland?

LEINEN Der jetzige Außenminister Sigmar Gabriel hat den Aufruf zur Kampagne unterschrieben. Als er gerade in Perl war, haben wir ihm das Buch überreicht.

 Jo Leinen (SPD) war von 1985 bis 1994 saarländischer Umweltminister. Seit 1999 ist er Mitglied des Europäischen Parlaments.

Jo Leinen (SPD) war von 1985 bis 1994 saarländischer Umweltminister. Seit 1999 ist er Mitglied des Europäischen Parlaments.

Foto: dpa/Esteban Cobo

Jo Leinen/Andreas Bummel:
Das demokratische Weltparlament.
Eine kosmopolitische Vision, Dietz Verlag, 26 Euro, ISBN 978-3-8012-0492-1

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