Dicke haben öfter Krebs

Viele der 437 000 Krebserkankungen jährlich sind vermeidbar - Übergewicht steigert das Risiko für einige Tumore um ein Drittel - Frauen sind besonders gefährdet

Mindestens 60 Prozent der Männer und 43 Prozent der Frauen in Deutschland sind zu dick. Das zeigen die Daten des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden. Die Folgen des Übergewichts belasten jedoch nicht nur Herz und Kreislauf, erhöhen den Blutdruck und das Risiko für Diabetes Typ 2 oder einen Schlaganfall. Übergewicht erhöht auch das Krebsrisiko. Es könnte in absehbarer Zeit neben Rauchen und übermäßigem Alkoholkonsum zum wichtigsten Krebsfaktor avancieren, denn es steigert das Risiko für einige Krebsarten um mindestens ein Drittel."Insgesamt gibt es Hinweise, dass Schilddrüsenkrebs, Leukämie, Hautkrebs, Speiseröhrenkrebs sowie bestimmte bösartige Erkrankungen von Knochenmark und Lymphsystem vermehrt bei Übergewichtigen entstehen, ebenso Tumorerkrankungen von Prostata, Eierstöcken, Magen, Leber und Gehirn", erklärt Dr. Rudolf Kaaks, Leiter der Abteilung Epidemiologie von Krebserkrankungen am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg.

Nach einer Studie der American Cancer Society und des Krebsforschungszentrums Heidelberg gelten Frauen als besonders gefährdet. Sie erkranken nach den Wechseljahren öfter an Brustkrebs, wenn sie übergewichtig sind und sich zu wenig bewegen. Mit fast 60 000 Neuerkrankungen pro Jahr ist Brustkrebs der häufigste Tumor bei Frauen, Übergewicht steigert das Risiko um 17 Prozent. Beim Gebärmutterkrebs erhöht sich das Risiko sogar um 45 Prozent. Diese Tumorart tritt allerdings zehnmal seltener auf. Die Gefahr für Speiseröhrenkrebs steigt nach der Statistik um 43, bei Nierenkrebs um 31 Prozent. Beim Darmkrebs, der bei beiden Geschlechtern auf dem zweiten Platz steht, steigert Übergewicht das Risiko für Männer um 27, für Frauen um 14 Prozent. Auch bei Gallenblasen- (27 Prozent), Magen- (27) und Bauchspeicheldrüsenkrebs (19) spielt Übergewicht eine wichtige Rolle.

Der Body-Mass-Index

Wenn die Experten des Heidelberger Krebsforschungszentrums die Zusammenhänge zwischen Übergewicht und Krebs untersuchen, kommt die Rede immer wieder auf den Body-Mass-Index (BMI), der das Verhältnis zwischen Gewicht und Körpergröße ausdrückt. Der BMI wird ermittelt, indem die Körpergröße in Metern mit sich selbst multipliziert und das Gewicht in Kilogramm durch dieses Ergebnis dividiert wird. Dazu ein Rechenbeispiel. Ein 1,80 Meter großer Mann, der 81 Kilogramm wiegt, hat einen BMI von 25. Dieser Wert signalisiert bereits leichtes Übergewicht. Bei einer 1,70 Meter großen Frau ist der BMI von 25 laut Definition der Deutschen Adipositas-Gesellschaft bereits bei knapp über 72 Kilogramm erreicht.

Ab 88 Zentimetern droht Gefahr

Der BMI ist jedoch nur ein relativ grober Maßstab - und Fett ist nicht gleich Fett. Mediziner unterscheiden das normale Unterhaut-Fettgewebe vom sogenannten viszeralen Fettgewebe ("Bauchfett") zwischen den Organen. Dieses Bauchfett muss nicht von außen sichtbar sein, doch die Fettzellen zwischen den Organen sind hochaktiv. Sie produzieren Botenstoffe, die das Risiko für Herz-Kreislauf-Leiden und bösartige Tumore erhöhen.

Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sollten Frauen einen Taillenumfang von unter 88 Zentimetern besitzen, Männer unter 102 Zentimetern. Gemessen wird morgens vor dem Frühstück in Höhe des Bauchnabels. Doch Vorsicht: Auch schlanke Menschen können viel dieses gefährlichen Fetts in sich tragen - vor allem dann, wenn sie sich wenig bewegen.

Jedes Jahr erkranken in Deutschland rund 437 000 Menschen an Krebs, 211 000 erliegen jährlich einem bösartigen Tumor. Noch in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vertraten die meisten Wissenschaftler und Mediziner die Auffassung, Krebs beruhe entweder auf genetischen Defekten oder gehe auf sogenannte Karzinogene zurück, schädliche Einflüsse von außen, die dem Erbgut irreparable Schäden zufügen. Als Beispiele gelten Ultraviolett-Strahlung, Schadstoffe des Zigarettenrauchs, aber auch chemische Verbindungen wie Schimmelpilzgifte, Asbest oder Acryl-amid. "Heute wissen wir, dass Krebs nicht nur auf diese klassischen Faktoren zurückgeht, sondern auch auf physiologische Prozesse im Körper", so der Heidelberger Krebs-Epidemiologe Professor Dr. Rudolf Kaaks. Zu solchen Prozessen gehörten offenbar allen voran die Überernährung und das daraus resultierende Übergewicht.

Zu viele Pfunde bringen den Stoffwechsel durcheinander. Diabetes Typ 2, früher "Altersdiabetes" genannt, ist ein Symptom dafür. Die Körperzellen verlieren ihre Fähigkeit, auf Signale des Zuckerhormons Insulin zu reagieren, während die Bauchspeicheldrüse immer mehr Insulin produziert. Bewegungsmangel begünstigt diese sogenannte Insulinresistenz. Neben Insulin und Zucker fluten zudem abnorme Mengen von Fettsäuren das Blut. Diese Veränderungen im Stoffwechsel lösen Kaskaden von Reaktionen aus, über deren Folgen die Mediziner noch längst nicht alles wissen.

Der Stoffwechsel entgleist

Darüber hinaus produzieren Fettzellen zahlreiche Botenstoffe im Körper, die in vielfältige Stoffwechselwege eingreifen. Dazu gehören unter anderem weibliche Sexualhormone. Sie führen bei Frauen zu einem erhöhten Risiko für Brustkrebs und Krebs der Gebärmutter. Je nachdem, welche Botenstoffe aus dem Gleichgewicht geraten, entstehen sogar direkte Schäden im Erbgut, die nicht mehr schnell genug repariert werden können. Darüber hinaus verändert die Hormonschwemme aber auch das komplexe Muster an- und abgeschalteter Gene, was ebenfalls Krebs auslösen kann. Auch haben die Wissenschaftler beobachtet, dass Übergewicht das Absterben schadhafter Zellen verhindern kann. Damit steigt wiederum das Risiko, dass bösartige Zellwucherungen entstehen.

Manche Krebsarten beruhen wiederum auf anderen Nebenwirkungen des Übergewichts. Dazu gehört zum Beispiel der sehr seltene Gallenkrebs. Übergewicht erhöht das Risiko für Gallensteine, parallel dazu aber auch das Risiko für diesen Tumor. Und weil Menschen, die zu dick sind, auch häufiger an Sodbrennen leiden, erhöht sich dadurch auch ihr Risiko für bösartige Tumore der Speiseröhre. Die ätzende Magensäure, die beim Sodbrennen aus dem Magen nach oben steigt, schädigt die Zellen der Speiseröhre.

Auf der anderen Seite gibt es allerdings auch Hinweise, dass nicht jedes Pfund Übergewicht automatisch das Krebsrisiko steigert. So erkranken leicht übergewichtige Frauen bis zum Eintritt in die Wechseljahre seltener an Brustkrebs als schlanke Altersgenossinnen. Auch bei Darmkrebs zeigt die Statistik, dass übergewichtige Frauen von einer gewissen Schutzwirkung profitieren.

Neben dem reinen Körpergewicht spielen beim Thema Krebs schließlich Ernährung und Bewegung eine Rolle. Manche Wissenschaftler betrachten sie als separate Risikofaktoren. "Es ist aber schwierig, sie vom reinen Übergewicht abzugrenzen", gibt der Epidemiologe Rudolf Kaaks zu bedenken. Obst und Gemüse zum Beispiel gelten als gesund. Wer hier herzhaft zugreift, ist seltener übergewichtig. Darüber hinaus standen die empfohlenen fünf Gemüse- und Obstportionen am Tag bisher aber zusätzlich auch im Ruf, sie könnten vor Krebs schützen. Dafür ist die Beweislage mittlerweile dünner geworden. Einen zweifelsfreien Nachweis hierfür gibt es nicht. Eine aktuelle Studie aus dem Fachmagazin "British Cancer Journal" unter der Federführung von Max Parkin vom Londoner Wolfson Institute of Preventive Medicine kommt immerhin zum Schluss, 2,7 Prozent aller Krebsfälle seien durch reichlichen Obst- und Gemüseverzehr vermeidbar. Ballaststoffe - sie sind vor allem in Obst, Gemüse und Vollkornprodukten enthalten - könnten weitere 1,5 Prozent vermeiden. Eine wichtige, negative Rolle spielen Fleisch und Wurst. So erhöhen verarbeitete Fleischwaren das Risiko für Darmkrebs. Auch rotes Fleisch gilt als Risikofaktor. Die Gründe sind nicht völlig geklärt. Der deutsche Krebsforscher und Nobelpreisträger Harald zur Hausen hat schon vor einigen Jahren erklärt, er meide insbesondere rohes Rindfleisch. Kalifornische Wissenschaftler meldeten, in rotem Fleisch auf ein Zuckermolekül gestoßen zu sein, das im Körper eine chronische Entzündung auslöst, die das Wachstum von Tumoren zu begünstigen scheint. Diskutiert wird auch, dass nicht durchgegarte tierische Produkte unbekannte Krankheitserreger übertragen können, die Tumore auslösen. Auch bei der Zubereitung von Fleisch, beim Braten oder Grillen, können krebsauslösende Substanzen entstehen. Insgesamt haben britische Forscher im "British Cancer Journal" errechnet, dass 4,7 Prozent aller Krebsleiden vermeidbar wären, wenn die Menschen weniger Fleisch äßen. Nicht zuletzt können auch salzige Lebensmittel das Risiko erhöhen, an Magenkrebs zu erkranken. Laut einer aktuellen Studie gehen 24 Prozent der Magenkrebsfälle auf den Konsum von mehr als sechs Gramm Kochsalz täglich zurück - insgesamt sind das 0,5 Prozent aller Krebserkrankungen, die vermeidbar wären.

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