Schicksalsschlag Nervenkrankheit ALS „Selbstmitleid ist auch keine Lösung“

Püttlingen · Vor zwei Jahren bekam Christian Bär die Diagnose ALS, eine unheilbare Nervenkrankheit. Gehen und sprechen kann er nicht mehr, und nachts wird er künstlich beatmet. Hier schildert er seinen Alltag – und wie er seinem kleinen Sohn erklärt, dass nichts unendlich ist.

 Ein Foto aus der Zeit vor der Erkrankung, als Christian Bär gerne wanderte und viel Sport trieb.

Ein Foto aus der Zeit vor der Erkrankung, als Christian Bär gerne wanderte und viel Sport trieb.

Foto: Christian Bär

Wenn mir jemand vor drei Jahren prophezeit hätte, wie mein heutiger Zustand ist, ich hätte mir es nicht vorstellen können. Vor nicht ganz drei Jahren kam unser Filius zur Welt und fast alles war perfekt. Natürlich war nicht alles eitel Sonnenschein, denn wir hatten auch Kummer durch erkrankte Familienmitglieder, aber es war in einem Maße, wie man es von einem mit Leben gefüllten Rucksack an Last erwarten kann. Beruflich war ich wie immer am Rotieren, ich mochte es stressig.

Von meiner Erkrankung hatten wir bis dahin nichts geahnt. Es mag auch daran gelegen haben, dass keine Zeit war, um die Anzeichen dafür zu sehen, dass da was im Argen ist. Natürlich war ich oft erschöpft und hatte nicht mehr so viel Po­wer, aber wen sollte das wundern bei dem Pensum? Wenn der Transformator brummt, wundert sich auch keiner. Aber es wäre sicherlich ein Punkt gewesen, mal die Bauteile prüfen zu lassen, ob sie auf Dauer für so viele Schwingungen taugen.

Dann kam unser Sohn zur Welt. Beim Verlassen des Krankenhauses trug ich ihn mit seiner Babyschale zum Auto, und da war es das erste Mal: dieses ungute Gefühl von Kraftlosigkeit im rechten Bizeps. Ein Jahr später, also vor ziemlich genau zwei Jahren, lag ich im Universitätsklinikum und bekam die Diagnose „Verdacht auf Motoneuronerkrankung ALS“. Ich hatte mich im Krankenhaus vorgestellt mit Muskelzuckungen, leichter Schwäche im rechten Arm und im rechten Bein, vermehrtem Speichelfluss und leichten Sprachproblemen. Ansonsten in einem guten Allgemeinzustand, vielleicht ein wenig pummelig, 96 Kilogramm, aber ich bitte um Nachsicht, wir waren schwanger.

 „Das Wichtigste ist, das Leben nicht zu vergessen“: Christian Bär mit aufgerichtetem Rollstuhl auf dem Baumwipfelpfad an der Saarschleife.

„Das Wichtigste ist, das Leben nicht zu vergessen“: Christian Bär mit aufgerichtetem Rollstuhl auf dem Baumwipfelpfad an der Saarschleife.

Foto: Christian Bär

Nachdem wir den ersten Schock überwunden hatten und die Tränen zum Heulen aufgebraucht waren, galt es, sich zu sammeln. Das Wichtigste ist, das Leben nicht zu vergessen. Ich zitiere „Eines Tages müssen wir alle sterben, Snoopy“, richtig, „und an allen anderen Tagen nicht“, richtig und klug. Einfacher gesagt als getan, aber Selbstmitleid ist auch keine Lösung.

Die wahre Tragik ist nicht mein vermeintlich zu früher Tod und wie es mir bis dahin geht, sondern das, was an Trauer und Schmerz damit verbunden ist. Die unausgesprochenen Worte, die fehlende Umarmung, die gemeinsamen Glücksmomente und all das, was Erinnerung an Papa ausmacht, wofür, gemessen an dem, was zu erwarten war, doch die Zeit fehlt.

Was bleibt, ist die Erinnerung. Jede Freude ist oder basiert auf Erinnerung. An was wird sich mein Sohn erinnern, wer war sein Papa, wie kann ich ihn auf dem Weg zu einem guten Menschen begleiten? Durchhalten ist angesagt und jeden Tag mit Liebe füllen. Für den kleinen Mann ist alles unendlich. Das Leben, die Geduld seiner Eltern, die Verfügbarkeit von Gummibärchen. Irgendwann wird der Tag kommen, dass er feststellen wird, dass nichts unendlich ist und einiges nicht ersetzbar. Wir üben das jetzt mit Gummibärchen und füllen ihn bis dahin mit bedingungsloser Liebe ab.

In Deutschland gibt es rund 3000 Verkehrstote pro Jahr. An ALS erkranken in Deutschland jährlich circa 2000 Menschen, Tendenz steigend. Die ALS ist eine schwerwiegende Erkrankung, deren Heilung Stand heute nicht möglich ist. Die Diagnose ist fatal und danach ist im Schnitt irgendwo nach zwei bis fünf Jahren Feierabend. Man stelle sich vor es, gäbe fast keine Verkehrstoten in Deutschland mehr, auch nicht mehr in Europa oder gar weltweit –  wir würden, berechtigterweise, Unsummen investieren. Bei ALS wäre es lösbar, doch anscheinend fehlt die Lobby. Die Forschung ist gnadenlos unterfinanziert, ebenso wie die ALS-Ambulanzen. Wo ist mein geschätztes Europa?

Das Leben ist nicht planbar. Wenn wir heute planen, fahren wir auf Sicht. Da wir die Entwicklung der Krankheit nicht abschätzen können, planen wir kurzfristig. Seit den ersten Symptomen sind ständig Veränderungen im Gang. Ich habe in zwei Jahren über 20 Kilogramm abgenommen, halte aber seit ein paar Monaten mein Gewicht. Ich kann nicht mehr gehen, nicht mehr sprechen und ich muss nachts künstlich beatmet werden. Meine Arme sind Ärmchen und fast unbrauchbar geworden. Dies alles führt dazu, dass ich ständig auf fremde Hilfe angewiesen bin. Toilette, Waschen, Anziehen, Trinken, Essen, Kratzen, nix geht mehr allein. Nix.

Stimmt nicht. Fast nix. Wenn meine Hand an die Rollstuhl-Steuerung gelegt wird, kann ich selbstbestimmt von A nach B fahren. Auch andere Hilfsmittel erlauben mir, die Verluste etwas auszugleichen. Treppenlifter, Pflegebett, vollautomatische Toilette, Sprachcomputer, Augensteuerung für den normalen Computer, Hausautomatisierung, Hustenassistent, Beatmungsmaschine. Alle Barrieren in Haus und Garten wurden bestmöglich durch Umbau beseitigt und ein behindertengerechtes Auto angeschafft.

Aber es ist nur ein Bruchteil vom alten Tanzbär geblieben, körperlich. Bis vor zwei Jahren hatten meine Frau und ich ein Ritual. Wir tanzten jeden Sonntagmorgen zusammen in der Küche. Ohne dass ich ein Bier getrunken hatte und egal, wo der Haussegen rumhing. Ich kann mich nicht mehr an den letzten Tanz erinnern. Es muss ein Klammerblues gewesen sein, mehr war nicht mehr drin. Ich glaube, wir beide wussten, dass es endlich ist, nicht jedoch, dass es der letzte gemeinsame Tanz unseres Lebens sein wird. Das bringt uns kein Hilfsmittel zurück, nur ein Wunder.

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