„Cattenom, das ist mehr als nur vier Türme“

Cattenom · Vor einem halben Jahr hat sich Susanne Speicher dazu entschieden, in einer Schule in Cattenom zu arbeiten. Seitdem pendelt sie von Saarlouis nach Frankreich. Angst vor dem Atomkraftwerk hat sie nicht. In Cattenom gefällt es ihr: „Das hier ist meine Welt.“

 Susanne Speicher bringt Kindern in Cattenom Deutsch bei. Wenn sie könnte, würde sie in die Stadt umziehen. Foto: Rolf Ruppenthal

Susanne Speicher bringt Kindern in Cattenom Deutsch bei. Wenn sie könnte, würde sie in die Stadt umziehen. Foto: Rolf Ruppenthal

Foto: Rolf Ruppenthal

Jeden Morgen taucht Susanne Speicher in eine völlig andere Welt ein. In eine Welt, die für viele beängstigend, nahezu bedrohlich zu sein scheint - mit einem der ältesten Atomkraftwerke Frankreichs. Mit vier grauen Kühltürmen, aus denen dichter Rauch aufsteigt. Reaktorexperten warnen immer wieder vor der Gefahr, die im Inneren der Anlage lauert. Und viele Menschen in der Umgebung leben in ständiger Angst, dass das AKW in Cattenom eines Tages eine ganze Region zerstören könnte. Doch das ist nicht die Welt, die Susanne Speicher täglich betritt.

Ihre Welt beginnt mit einer ruhigen Straße, umgeben von einigen Bäumen, die ihre ersten Blätter tragen. Im Licht der aufgehenden Sonne singen Vögel den Frühling herbei. Auf einem Weiher treibt ein Schwanen-Paar. Und hinter einer schmalen Brücke, gerade breit genug für ein Auto, ragen die Dächer der Stadt idyllisch in den Himmel. "Das ist für mich Cattenom", sagt die 48-Jährige, die seit etwa einem halben Jahr von Saarlouis-Fraulautern in die französische Gemeinde pendelt: "Cattenom, das ist mehr als nur vier Türme."

Seit 1. November 2012 arbeitet Speicher im Rahmen des Sprachprojektes "Trilingua" in Frankreich. In grenznahen Grundschulen und Kindertageseinrichtungen sollen Kinder möglichst früh dreisprachig erzogen werden. "Sie müssen nicht literarisch und grammatikalisch einwandfrei sprechen können", erklärt Speicher: "Das können sie später lernen. Hier geht es darum, die Lust an der Sprache zu wecken." Da sie keine pädagogische Ausbildung hat, vermittelt Speicher die deutsche Sprache als Lehrer-Assistentin. Und zwar durch die Kunst. "Durch das Visuelle verankert sich auch das Wort." Im Herbst hatte sie sich in mehreren Städten beworben, Zusagen erhielt sie in Cattenom und Bitche. "Ich habe mich sofort für Cattenom entschieden", erzählt Speicher. Das Vorstellungsgespräch, die Kollegen, die Stadt - alles hat sie von der ersten Sekunde an begeistert.

Über der Eingangstür der Schule Georges Pompidou hängt ein Schild, verziert mit Buntstiften. Eine große Skulptur aus Stein zeigt ein stilistisches Einhorn, entstanden nach Entwürfen und Zeichnungen von Kindern. "Das hier ist meine Welt", sagt Speicher und lacht. Noch bevor sie die Schule betritt, begegnen ihr die ersten Kinder. Die dreifache Mutter arbeitet vorwiegend mit Drei- bis Sechsjährigen zusammen, die ihr ein lebendiges "Guten Morgen, Susanne" zurufen. Susanne Speicher studiert mit den Schülern Theaterstücke ein, singt und spielt - fast komplett auf Deutsch. "Wir machen hier viel mit den Kindern", sagt sie: "Wir haben ja auch viele Möglichkeiten." Von Kunstausstellungen über Ausflüge bis hin zu Sportveranstaltungen. "Cattenom ist reich. Mit seinem Geld macht es auch viel für die Menschen hier", meint Speicher.

Exakt 2701 Menschen leben in der Gemeinde, wie eine ihrer Kolleginnen in der Mittagspause erzählt. "Die Eltern der Schüler hier wissen um die Vorteile von Cattenom, sie wissen um die gute Bildung. Durch die kurzen Wege liegt hier alles dicht beieinander", sagt Speicher.

Am Nachmittag malt sie mit einigen Schülern, erklärt die Farben in der deutschen Sprache. Durch die großen Fenster an der Wand dringt das warme Sonnenlicht in den Raum. Und in der Ferne steigt der Rauch aus den Türmen auf. Speicher nimmt ihn kaum wahr. "Bei meinem Vorstellungsgespräch wurde ich gefragt, ob ich Angst vor dem Kernkraftwerk habe", erinnert sie sich: "Ich habe sofort verneint." Die Kirche aus dem 18. Jahrhundert und das Rathaus im Schlösschen tragen das romantische Stadtbild. "Ich würde sofort hierher ziehen", sagt Speicher: "Aber zwei meiner Kinder gehen noch in Deutschland zur Schule."

Deshalb taucht sie am späten Nachmittag wieder aus ihrer Welt auf. Zurück über die Brücke, vorbei am Weiher, dem Schwanen-Paar und den bäuerlichen Höfen. Heraus aus dieser Welt, die Susanne Speicher gar nicht so gefährlich findet.

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