Lernpaten im Saarland Lebenshilfe für benachteiligte Kinder

Saarbrücken · Die Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) pro Ehrenamt hat bereits 130 Lernpaten für den Nachwuchs im Saarland am Start. Wie funktioniert eine solche Beziehung? Heike Kosok und Leon berichten.

 Lernpatin Heike Kosok mit ihrem Schützling Leon bei einem Ausflug im Merziger Tierpark.

Lernpatin Heike Kosok mit ihrem Schützling Leon bei einem Ausflug im Merziger Tierpark.

Foto: Ruppenthal

Wann war Leon (10) zum ersten Mal im Zoo? Vor zwei Jahren, sagt Heike Kosok: „Wir beide haben das zusammen gemacht.“ Und Leon, der sich zu Beginn des Interviews in seinen Stuhl verkrochen hat, als wolle er verschwinden, sagt plötzlich deutlich vernehmbar: „Nein. So war das nicht. Ich war schon mit der Schule dort.“ Widerspruch, wie herrlich! Beinahe klatscht die 52-jährige Heike Kosok vor Freude in die Hände.

Erziehungswelt verkehrt? Im Gegenteil. Es sind Momente wie diese, die die Lernpatin der ersten Stunde stolz machen auf ihre Arbeit. Seit zwei Jahren betreut sie Leon, offiziell einmal die Woche, zwei Schulstunden lang. Treffpunkt war, wie für alle Lernpaten, in der Schule, hier war es die Römerbergschule Roden. Neutraler Boden soll es sein, Lernpatenschaften sind was Ernstes, kein Bespaßungsprogramm, das wissen auch die Kinder.

Nach den Sommerferien wechselt Leon in die Gemeinschaftsschule „In den Friesen“, und eigentlich sollte damit die Lernpatenschaft enden. Doch Kosok wird Leon noch eine Weile weiterbegleiten, bis sie weiß: Er hat den Übergang geschafft. Überhaupt wird Leon ihre Telefonnummer behalten, für immer, für alle Fälle.

Kosok, selbst Mutter zweier erwachsener Kinder, investiert weit mehr ehrenamtliche Stunden als vorgeschrieben. Rund vier sind es wöchentlich, übers Jahr gerechnet. Aber wer rechnet schon bei dieser Art von Beziehung? Kosok nicht. Sie telefoniert regelmäßig mit Leons Vater, trifft immer mal wieder Lehrer in der Schule und besucht die Pro-Ehrenamt-Netzwerkgruppe für Lernpaten. Vor allem aber organisiert sie für ihr Patenkind Erlebnisse: Spielplatz- und Kino-Besuche, Spaziergänge, Fahrten zur Naturbühne Gräfinthal oder zu den Dinosauriern im Gondwana-Park Reden. Denn Leon fehlten Alltags-Kenntnisse, soziale Erfahrungen und kommunikative Souveränität. Anlass für die Patenschaft boten die schlechten Deutsch­noten. Doch die verloren sehr schnell an Bedeutung: „Ich habe mit ihm viel gelesen und all das unternommen, was er nicht kannte und vermisste.“

Kosok ist eine von 130 Lernpaten im Saarland, im August startet der elfte Qualifizierungs-Lehrgang. Mehr als 100 Schulen sind schon Partner für die Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Pro Ehrenamt, die das Projekt zusammen mit der Stiftung Bürgerengagement 2015 startete. Es soll die Bildungschancen von Kindern aus benachteiligten Familien erhöhen. Dafür wird ein Kooperationsvertrag zwischen der Schule, Pro Ehrenamt, den Eltern und den Lernpaten geschlossen, auch das Kind unterschreibt. Wobei sich der Lernpaten-Einsatz nicht als Nachhilfe oder Nachmittagsbetreuung versteht, sondern als Lebenshilfe und Persönlichkeitsentwicklungs-Motor. Deshalb werden die Lernpaten ihrerseits geschult, in Lernmethodik, Gesprächsführung, Rechtsfragen rund ums Kindeswohl. „Wir legen Wert auf hochrangige Referenten“, sagt Hans Joachim Müller, Präsident der LAG Ehrenamt. Auch biete man Supervision an. „Unser Credo ist: Wir lassen euch nicht allein.“ Für Müller haben die Lernpaten schon jetzt eine beispiellose „Erfolgsgeschichte“ geschrieben. Eine Evaluierungsstudie der HTW Saar beglaubige dies.

Tatsächlich strahlen auch Kosok und Leon vor Zufriedenheit um die Wette. Kosok hebt hervor, wie viel Selbstvertrauen Leon hinzugewonnen habe: „Er war ein Kind, das nie eigene Wünsche äußerte. Jetzt sagt er schon mal: ,Heike, bist du peinlich!’ Für mich ist das eine Riesenfreude, zu erleben, was für ein cooler Junge er geworden ist, und zu wissen, ich habe einen kleinen Anteil daran.“ Zu viel der Bescheidenheit. Leon bestätigt: „Früher habe ich mich nie gemeldet.“ Heike habe ihm beigebracht: „Du musst nicht schüchtern sein.“ Toll findet er, dass er vor Deutscharbeiten mit Heike üben kann und jetzt besser ist im Lesen. Auch die Lehrerin, Selina Stephany, spricht in einer Mail von „wertvoller Arbeit“: Kosoks Einsatz habe außerhalb der Schule Früchte getragen und habe Leons schulische Entwicklung „sehr positiv“ beeinflusst. Genauso sieht es Leons Vater, Michael Baron (52): „Das Konzept hat mir sofort gefallen“, sagt er, und Leon habe unbedingt mitmachen wollen. Sehr schnell schon habe sich die Rechtschreibung in Leons SMS-Botschaften verbessert, die Noten sowieso.

Sein Kind in fremde Hände zu geben und die Türen zum Familienleben für einen fremden Menschen zu öffnen, habe ihm nichts ausgemacht, sagt er: „Die Chemie mit Frau Kosok hat gestimmt.“ Beeinflussung, Konkurrenz, Eifersucht? Kein Thema. „Wir sind ein Team“, sagt Baron und spricht von Entlastung. Seit fünf Jahren erzieht er Leon und dessen älteren Bruder allein, ist voll berufstätig, muss oft abends raus. Leons Mutter (32) lebt im selben Haus, verbringt aber viel Zeit bei ihrem neuen Partner, hat mit ihm ein Kind. Leon spielt, wie er sagt, oft Babysitter für die Halbschwester. Ansonsten verbringt er die Zeit mit Playstation-Spielen. „Immer!“

Zu intensiv möchte Kosok gar nicht über Familiäres Bescheid wissen. Distanz sei wichtig, trotz des „innigen Kontaktes“, sagt sie. In die Rolle der Ersatzmutter dürfe man sich nicht begeben – ein emotionaler Balanceakt.

Warum wollte sie, die keinerlei Vereinserfahrung hat, überhaupt ehrenamtlich tätig werden? Die Kinder groß, der Teilzeitjob als Regierungsangestellte im Innenministerium im Griff, da bleiben Zeit- und Energiekapazitäten und die Erinnerung daran, wie froh Kosok selbst einst war, weil sie wusste, wie sie sich in der Erziehung Hilfen organisieren konnte: „Ich habe mich oft gefragt, was Kindern passiert, wenn das mit der Unterstützung nicht so gut klappt.“ Aus Erzählungen ihrer Freundin, die Tages- und Pflegemutter ist, erfuhr sie zudem viel über traurige Kinderschicksale. „Ich finde soziales Engagement sehr wichtig“, sagt sie. Da kam 2015 die erste Anwerbungs-Annonce für die Lernpaten gerade richtig. Jetzt will Kosok das zweite Kind übernehmen. Am liebsten wieder eines „aus bildungsfernen Schichten“, dem sie mehr beibringen kann als Schulwissen – wie man ein cooler Typ wird, so wie Leon.

Weitere Infos: www.lernpaten-saar.de, E-Mail: kontakt@lernpaten-saar.de.

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