Klangkunst-Festival Experimance Wie ungewohnte Klangcollagen die Ohren in den Bann ziehen

Saarbrücken · Lautstark, dissonant, psychedelisch, atonal: Zahlreiche Künstler und Formationen beim Saarbrücker Klangkunst-Festival Experimance haben die Ohren der Zuhörer am Wochenende auf Entdeckungsreise geschickt.

 Die Leipziger Kombo „Atonor“ legte einen energiegeladenen, sound- und lichttechnisch fein ausgeklügelten Auftritt hin.

Die Leipziger Kombo „Atonor“ legte einen energiegeladenen, sound- und lichttechnisch fein ausgeklügelten Auftritt hin.

Foto: David Lemm

Am Freitagabend ist die ganze Stadt auf den Beinen. Kein Wunder, das Kultstadtfest lockt an diesem Wochenende zahlreiche Besucher in die Landeshauptstadt. Während sich die feierwütigen Passanten lautstark ihren Weg aufs Stadtfest bahnen, finden sich vor der Johanneskirche rund 100 Besucher ein. „Es fängt draußen mit dem Ankommen an“, sagt Kathrin Lambert, die Initiatorin und Künstlerische Leiterin des Klangkunst-Festival Experimance. An der neben dem Kirchgarten aufgebauten Bar gibt es kühle Getränke und feine Weine aus der Region. Sie versüßen die Ankunft im urbanen Setting des Nauwieser Viertels.

Gegen halb bittet Festivalmacher Peter Heck die Gäste ins Innere der Johanneskirche. Im Portal hängt ein riesiger Gong an einem Holzgestell. Ruhe und Kühle ausströmend – ein starker Kontrast zur hektischen Kulisse vor der Tür. Im Inneres des Kirchschiffs ist eine hautfarbene Stoffbahn auf dem Boden ausgerollt. Zwei reglose Körper zeichnen sich darunter ab. Nachdem die Besucher auf den Kirchenbänken Platz genommen haben, beginnt die Tanzperformance der Formation oSONo. Irena Petravsca an der Bratsche erweckt mit ihrer Darbietung aus gezupften Obertönen und knatschenden Fußgeräuschen die beiden Körper (Claudia Gutapfel und Sakia Bommer) zum Leben. Langsam rücken sie aufeinander zu, bis sie miteinander verschlungen nur noch einen Körper bilden. Das verhüllte Geschehen wird von dissonanten Tönen auf der Bratsche begleitet und gibt Rätsel auf beziehungsweise öffnet den kontemplativen Raum für freie Assoziationen jedweder Art. Handelt es sich um die wälzende Unruhe von Embryos oder werden hier spannungsgeladene Beziehungen auf der Zerreißprobe zur Schau gestellt? Die Antwort liegt im Auge und Ohr des Betrachters und es dauert, bis das Publikum wieder zu sich und zum Applaudieren findet.

„Vox & Organum“ heißt das aus Berlin angereiste Duo, das folgt. Pianist Felix Römer begleitet meisterhaft auf der Orgel Sopranistin Lisa Ströckens, die bereits am Vortag im Garelly-Haus mit Schaltkreismusik aufgetreten war. Von der Empore wandelt sie barfuß, auf leisen Sohlen, in einem üppigen Gewand gekleidet und von Orgel-Tremoli belgeitet herab, um sich auf der Stoffbahn zu postieren. Die mit Tanz unterlegte Darbietung verschränkt sich mit dem Orgelspiel zu einem beeindruckenden Hörerlebnis à la Bjork, das nun fließend an Fahrt aufnimmt.

Denn der niederländische Künstler Hans van Koolwijk hat sich bereits im hinteren Teil der Kirche postiert und bringt nach einem fulminanten Intermezzo und den dann verebbenden Klängen der Orgel seine eindrucksvolle Installation allein zum Klingen. Sie besteht aus Holzröhren, Schläuchen und Angeln. Ähnlich wie bei einer Orgel verkürzt und verlängert er mit verschiedenen Gerätschaften die schwingenden Luftsäulen in den Holzröhren. „Bells and Whistles“ nennt er seine Ausstellung, zu der auch der Gong im Eingang zählt. Als es sich die Besucher im Halbrund um ihn bequem gemacht haben, zeigt er, was in seinem selbstgebauten Apparat steckt – und zieht buchstäblich alle Register. Das dissonante Wechselspiel garniert er mit Störgeräuschen, womit er einen infernalen organischen Sound kreiert, der teilweise ohrenbetäubend die heiligen Gemäuer erbeben lässt. Die Besucher sind aus dem Häuschen.

„Ich bin einfach begeistert und überwältigt von dem Zusammenspiel von Orgel und Koolwijk“, schwärmt Rudolf Arnold aus Ulm. Zusammen mit dem Ulmer EMO-Ensemble war er vergangenes Jahr zu Gast auf dem Experimance-Festival, wo er auch einen Vortrag über musikbasiertes Biofeedback hielt. „Hier sind einfach tolle Leute, und die dargebotene Kunst ist sehr beeindruckend“, begründet er seinen erneuten Besuch, dieses Mal „nur“ als Gast. Doch am nächsten Tag darf er sich dann am Nachmittag im Osthafen doch noch praktisch betätigen.

Im Workshop „Deep Dive in Sound“ werden dort unter der Anleitung von Jacqnoise, die später in der Clubnacht mit einem Live Set auftritt, modulare Synthesizer zusammengelötet. Eine ruhige Hand und etwas technisches Verständnis sind gefragt, bevor die stolzen Besitzer ihre selbst gebauten Synthesizer ausprobieren dürfen. Zeitgleich werden in den anderen drei Workshops analoge Instrumente gebaut, die Stadt akustisch erkundet und im Theater Körper miteinander in Dialog gebracht. Dazu gibt es on top im Außenbereich Musik, Kaffee, Kuchen und die Möglichkeit, sich mit Platten, Schmuck und Kleidung einzudecken, bevor an Abend der vorletzte Block mit Konzerten und Aufführungen beginnt.

Jasna Velickovic überzeugt auf ganzer Linie mit ihrem Live Set. Die Zuschauer erhalten via Beamer einen genuinen Blick in ihre aus Elektromagneten und Stimmgabeln bestehende Klangwerkstatt, mit der sie interessanten Tonalitäten und kakophone Soundcollagen live zu erschaffen weiß. Als wahre Publikumsmagneten erweisen sich die Leipziger Kombo „Atonor“ sowie die Saarbrücker Psychedelic-Formation „Datashock“.

„Atonor“ legt zu dritt im voll besetzten Theater einen energiegeladenen, sound- und lichttechnisch fein ausgeklügelten Auftritt hin. Für ihre bizarren Umfunktionierungen von Ergometern, Luftpumpen und Telefonen werden sie vom Publikum lautstark bis zum Erbringen einer Zugabe gefeiert. Auch „Datashock“ erfährt großen Zuspruch auf dem Nebenplatz. Unter der gespannten Zeltplane sitzen die Musiker dicht gedrängt beieinander und bringen auf verschiedene Instrumenten ihre sich langsam entwickelnden psychedelisch und atonalen Klangcollagen den gebannten Gästen zu Gehör. Ein toller Abschluss, der Lust auf das kommende Jahr macht. Denn dann wird es mit dem gleichen Grundkonzept an verschiedenen Spielstätten in Saarbücken weitergehen, versichern die zufriedenen Festivalmacher.

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