Bausektor befeuert die Erderwärmung Expertin über das Bauen der Zukunft: „Klimaneutrale Gebäude sind der Schlüssel für den Klimaschutz!“

Saarbrücken · Die Baubranche verursacht fast 50 Prozent der Treibhausgase. Schon deshalb führt kein Weg vorbei an nachhaltigem, Ressourcen schonendem Bauen. Wie das geht und was jetzt schnell passieren muss, das erläuterte eine Expertin auf Einladung der Stiftung Baukultur in der Saar-Architektenkammer in Saarbrücken.

 Klimaanlagen werden in heißen Ländern immer beliebter – und setzen dem Klima weiter zu. Hier ein Gebäude in Hongkong.

Klimaanlagen werden in heißen Ländern immer beliebter – und setzen dem Klima weiter zu. Hier ein Gebäude in Hongkong.

Foto: imago images / Stefan M Prager/imago stock

„Wir haben ganz schön viel Mist gebaut“, sagt Christine Lemaitre. Und meint das wörtlich. Das könne man sich zukünftig nicht mehr leisten, so die promovierte Bauingenieurin, die als geschäftsführende Vorständin die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) mit Sitz in Stuttgart leitet. „Was wir jetzt bauen, prägt die zukünftigen Generationen!“. Und deshalb muss es nachhaltig sein. „Wir können nicht erst 2050 klimaneutral werden, sondern haben nur Zeit bis 2032!“, mahnt Lemaitre gleich zum Einstieg in ihren Vortrag. Diesen alarmierenden Zeitrahmen hat der Weltklimarat (IPCC) gerade verkündet. Wird jetzt nicht schnell gehandelt, ist die Erderwärmung nicht mehr zu begrenzen, das Klima „kippt“.

Windräder und Photovoltaikanlagen allein werden das Blatt nicht wenden. Denn allein der Bausektor verursacht 50 Prozent der klimaschädlichen Treibhausgase. Wie dessen CO2-Fußabdruck ganz schnell reduziert werden kann, dazu präsentierte die Bau-Expertin viele ineinander greifende Maßnahmen bei ihrem Vortrag in Saarbrücken.

Es ist ökonomisch sinnvoll, ökologisch zu bauen

 Christine Lemaitre von der DGNB bei ihrem Vortrag über Nachhaltiges Bauen in der Akademie der Architektenkammer des Saarlandes.

Christine Lemaitre von der DGNB bei ihrem Vortrag über Nachhaltiges Bauen in der Akademie der Architektenkammer des Saarlandes.

Foto: Iris Maria Maurer

Lemaitre hat diesen Vortrag schon oft gehalten. Sie sei auch oft belächelt worden. Jetzt nicht mehr. Zu ernst ist die Lage. Die Baubranche habe erkannt, dass es sich auch finanziell lohnt, ökologisch und sozialverträglich zu bauen. Das Argument „Zu teuer“ widerlegt Lemaitre. „Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Baukosten und Nachhaltigkeitskriterien“, erklärt sie und zeigt dazu eine Auswertung der DGNB.

„Wir können heute Zukunft bauen!“, ermutigte sie die anwesenden Architekten, Ingenieurinnen und Bau-Experten. Lemaitre hatte einige Beispiele klimapositiver, Ressourcen schonend gebauter Gebäude mitgebracht, die im Betrieb Energie-Überschüsse erzielen: darunter Einfamilienhäuser und Logistikzentren, aber auch das Rathaus in Freiburg zum Beispiel oder ein riesiger Uni-Komplex in Singapur.

„Mit Leuchtturmprojekten retten wir nicht die Welt!“

Lemaitres Botschaft: Es geht. Aber: „Mit Leuchtturmprojekten retten wir nicht die Welt!“. Deshalb sei es dringend erforderlich, Wissen über nachhaltiges Bauen auszutauschen „und nicht in jeder Stadt, jedem Quartier das Rad wieder neu zu erfinden“.

Sie warnt davor, dass in Berlin sehr viele Lobby-Gruppen unterwegs seien, um die neuen strengen Bundes-Förderrichtlinien für effiziente Gebäude (BEG) und die Anforderungen an Nachhaltiges Bauen zu verwässern.

2009 hatte Christine Lemaitre die DGNB mitgegründet. Und seitdem viele dicke Bretter gebohrt. Klimaneutrales Bauen – das sei lange kein ernsthaftes Thema in der Bauindustrie gewesen. Seit die Energie- und Klimakrisen uns quasi in Lichtgeschwindigkeit in ein neues Zeitalter katapultiert haben, in dem es nun gilt zu retten, was zu retten ist, wollen aber auf einmal alle nachhaltig bauen. Denn der Bausektor verursacht nicht nur durch umweltbelastende, ressourcenintensive Materialien (Beton, Sand, Stahl, Dämmung) enorme Klimagasemissionen. Eine ehrliche Rechnung muss zudem den Transport, den energetischen Betrieb der Gebäude bis hin zu ihrem Abriss miteinbeziehen. Diese Lebenszyklusbetrachtung, nach der die DGNB ihre abgestuften Zertifikate (Silber, Gold, Platin) vergibt (bisher über 10 000, im Saarland gerade mal neun), funktioniert ganzheitlich. Nicht nur der Energieverbrauch, sondern auch Faktoren wie Biodiversität, Schadstoff-Werte oder soziokulturelle Auswirkungen eines Gebäudes fließen in dessen Ökobilanz mit ein. In Dänemark und Frankreich ist ein solcher Nachweis für neue Gebäude schon Pflicht, in Deutschland soll es 2023 so weit sein.

Für Lemaitre ist das ein großer Erfolg. Dabei versteht sich die gemeinnützige DGNB nicht als Lobby-Vereinigung. Gleichwohl hat sie Einfluss als wichtigste Zertifizierungsstelle Deutschlands und durch ihre Expertise: 80 Mitarbeiter evaluieren, zertifizieren, beraten rund um das hochkomplexe Thema, dem sich auch die EU angenommen hat. 1800 Mitglieder aus der gesamten Bau-Wertschöpfungskette hat die Gesellschaft – darunter Architekten, aber auch große Autobauer, Städte und Einzelhändler.

Mittlerweile lächele niemand mehr, wenn sie aufführt, was alles geht, gibt Lemaitre in Saarbrücken süffisant zum Besten. Schadstofffreie Dämm-Materialien? Bürotürme ohne konventionelle, energiefressende Klimaanlagen? Gerade die bringen Lemaitre auf die Palme. Sollten weltweit weiterhin so viele Klimaanlagen wie bisher installiert werden, würden allein die in Indien und China eingebauten Geräte bis 2050 zu einer Erderwärmung von bis zu 6 Grad beitragen. „Das ist gar kein Thema, denn es gibt eine Riesen-Lobby, die sogar die Klimagipfel sponsort“, empört sich Lemaitre.

Altbau-Sanierungen haben das größte Potenzial

Trotz desolater Lage macht die Expertin Mut: Nullenergie-Häuser seien möglich, zirkuläres Bauen auch. Es gibt Beispiele für Suffizienz-Häuser, die mit dem Allernötigsten an Technik und Baumaterial auskommen und trotzdem hohe Wohnqualität bieten. Und dann ist da noch das riesige Potenzial der energetischen Sanierung von Altbauten. Dabei geht es mitnichten nur um das Thema Dämmung. „Wenn wir zehn neue Gebäude bauen, verursacht das einen so hohen CO2-Ausstoß wie die Sanierung von 23 Altbauten.“ Man brauche daher pragmatische Lösungsansätze, alle an einem Bauprojekt Beteiligten müssten an einen Tisch. Jedes Gebäude sei anders, danach richte sich auch der Materialeinsatz und die Architektur. „Entscheidend ist, dass wir endlich anfangen. Jetzt!“

Für Bund und Land heißt das: die gesetzlichen Rahmenbedingungen schnell so ändern, dass nachhaltiges Bauen auch ohne hohe Hürden möglich ist. Man muss also ran an Flächennutzungs- und Bebauungspläne. Bauminister Reinhold Jost (SPD) jedenfalls, der das Grußwort gehalten hatte, wird den Appell gehört haben.

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