„Wir sind nicht islamistisch“

Völklingen · Seit Jahren beobachtet der Verfassungsschutz die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs, die auch in Völklingen aktiv ist. Einen konkreten Anlass wie extremistische Äußerungen gab es indes noch nie – deshalb will auch das Saarland umdenken.

 Freitagsgebet in der Moschee in Luisenthal. Der Verfassungsschutz beobachtet die Gemeinschaft seit Jahren. Foto: Rolf Ruppenthal

Freitagsgebet in der Moschee in Luisenthal. Der Verfassungsschutz beobachtet die Gemeinschaft seit Jahren. Foto: Rolf Ruppenthal

Foto: Rolf Ruppenthal

Die Feinde der Verfassung residieren in einem ehemaligen Kino mitten in Völklingen-Luisenthal. Ums Eck wäscht eine Reinigung Teppiche, eine Kosmetikpraxis pflegt geschundene Füße. Gegenüber verfällt der rote Backstein des Bahnhofsgebäudes. Pendler kommen an, Busse fahren ab. In den Kübeln unter den Fenstern der unscheinbaren Moschee der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs blühen lila-farbene Petunien. In den Räumen der vom saarländischen Verfassungsschutz beobachteten Gemeinde herrscht zur Mittagszeit gähnende Leere. Es ist Fastenmonat und unter Hüseyin Yavas' Augen liegen tiefe Schatten. Der Vereinsvorsitzende ist seit über 24 Stunden wach. Hinter dem gelernten Krankenpfleger liegt ein Bereitschaftsdienst im OP des Püttlinger Krankenhauses. Auf die Überwachung des Geheimdiensts angesprochen, wirkt er noch erschöpfter. "Wir sind Moslems und weder fanatisch noch islamistisch. Wir wollen unseren Glauben friedlich ausleben und nicht mit dem deutschen Gesetz in Konflikt geraten", erklärt der 44-Jährige, der seit seiner Kindheit im Saarland lebt, in akzentfreiem Deutsch.

Keine Parolen, keine Gewalt

Doch das sieht die Landesregierung bislang anders. Schon seit Mitte der 1990er-Jahre überwacht der dem Innenministerium unterstellte Verfassungsschutz Milli Görüs, führt die Völklinger Gemeinde in seinem jährlichen Lagebericht unter dem Punkt Ausländerextremismus als größte islamistische Organisation im Saarland . Auch in diesem Jahr wieder. Einen konkreten Anlass gibt es nicht: Extremistische Äußerungen von Mitgliedern sind den Geheimdienstlern laut Bericht - wie in den Jahren zuvor - auch 2013 nicht bekannt. Auch an Straf- oder Gewalttaten mit ausländerextremistischem Hintergrund seien Milli-Görüs-Anhänger seit Beginn der Überwachung nicht beteiligt gewesen, hieß es auf SZ-Anfrage aus dem Innenministerium. Im Juni versprach der Chef des Saar-Verfassungsschutzes, Helmut Albert, dann auch, Milli Görüs demnächst aus dem Lagebericht zu streichen. Man wolle sich künftig auf wenige Einzelpersonen aus der Bewegung konzentrieren, kündigte Albert an. Wann dies konkret geschehen soll, war allerdings aus dem Ministerium nicht zu erfahren. Norddeutsche Verfassungsschützer sind da weiter: Der Bremer Lagebericht verliert seit diesem Jahr kein Wort mehr über Milli Görüs. Und in Hamburg will der Verfassungsschutz die Observation im nächsten Jahr einstellen.

Fotos, Urkunden und ein Flachbildfernseher hängen an den komplett mit Holzpanelen ausgekleideten Wänden. Hinter den Tischreihen mit den weißen Einweg-Plastikdecken findet sich eine Tee- und Kaffeebar. Im Vorraum der Völklinger Moschee könnte auch ein Kaninchenzuchtverein Sitzungen abhalten. Gemeindechef Yavas blickt auf die Digitalanzeige mit den Gebetszeiten und zupft sein kariertes Hemd zurecht. Der Tag ist noch lang. Essen wird der Sohn eines Bergmanns erst beim gemeinsamen Fastenbrechen, wenn die Sonne untergegangen ist. Mit dem Schlafen muss er noch bis nach dem Nachtgebet kurz vor Mitternacht warten. Doch im Gespräch wird der 44-Jährige nicht müde, aufzuzählen, wie sich die Gemeinde in Völklingen einbringt: Tage der offenen Tür, Kindergartenbesuche, Deutsch-Nachhilfe für den Gemeindenachwuchs und regelmäßige Treffen mit Protestanten und Katholiken. "Über 60 Prozent unserer Mitglieder besitzen die deutsche oder eine doppelte Staatsbürgerschaft. Sie zahlen Steuern und gehen arbeiten. Wir raten jedem, der kann, wählen zu gehen", sagt Yavas.

Aber warum wird Milli Görüs bis heute an der Saar überwacht? Die Ideologie der Milli-Görüs-Bewegung eigne sich dafür, "eine ablehnende Haltung gegenüber westlichen Werten zu verstärken und Demokratiedistanz zu fördern", heißt es dazu aus dem Ministerium von Monika Bachmann (CDU ). Dies werde von "Einzelpersonen und darüber hinaus" weiter an der Saar gelebt und propagiert.

Ein Argument, dem nicht nur führende Islam-Wissenschaftler widersprechen: "Genau von dieser Position ist der niedersächsische Verfassungsschutz in seinem aktuellen Bericht abgerückt. Der gesamte deutsche Milli-Görüs-Verband wird dort zudem seit diesem Jahr nicht mehr als extremistisch eingestuft", erklärt Professor Werner Schiffauer von der Universität Frankfurt/Oder, dessen jüngstes Buch über Milli Görüs die "Frankfurter Allgemeine" unter der Schlagzeile "Pflichtlektüre für den Verfassungsschutz " lobte. Der Geheimdienst verdächtige die muslimische Gemeinschaft aufgrund ihrer türkischen Herkunftsgeschichte latent, heimliche Ziele zu verfolgen. Doch das islamistische Gedankengut des verstorbenen Gründers der Bewegung, Necmettin Erbakan , sei für die mittlerweile über mehrere Generationen in Deutschland lebenden türkischen Einwanderer-Familien irrelevant. Schiffauer zufolge konnten die Behörden Milli Görüs bundesweit noch nie etwas nachweisen. Mit dem Verbleib von Milli Görüs als "Karteileiche in Verfassungsschutzberichten" produziere man Distanz, Entfremdung und Ausgrenzung. Der Geheimdienst wirke so der regionalen Integration entgegen.

Hausverbot für Salafisten

Auch der Islam-Experte Jörn Thielmann von der Universität Erlangen glaubt nicht, dass die muslimische Gemeinschaft ein Wolf im Schafspelz ist: "Wer seine religiösen Wurzeln pflegt, lehnt nicht automatisch westliche Werte ab. Sie werden sich nicht unerwartet als Hort von radikalem Islamismus entpuppen." In den Moscheen gelte seit 2004 ein striktes Hausverbot für Salafisten . Auf Tagungen brandmarke man den Salafismus zudem als Irrglaube. Milli Görüs' einziges politisches Ziel ist - da sind sich die Islam-Wissenschaftler einig - als Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden. "Wenn wir bei uns einen faulen Apfel entdecken würden, würden wir ihn am Kragen vor die Tür setzen. Wer sich radikalisiert, schadet der Religion, unserer Gemeinde und auch Völklingen ", sagt auch der Gemeindevorsitzende Yavas. Seine müden Augen wandern dabei über die bunten Kacheln im Gebetsraum, in dem der Imam seit einigen Jahren den Koran auf türkisch und deutsch lehrt. Was genau die Saar-Verfassungsschützer über seine Gemeinde denken, wisse er nicht, sagt der Vater von vier Kindern und klingt dabei frustriert. Er lese den Lagebericht schon länger nicht mehr. "Ich habe Verfassungsschutzchef Albert vor etwa zehn Jahren mal zufällig am Gymnasium meiner Tochter getroffen. Wir haben uns nur kurz gegrüßt."

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HintergrundDie islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) ist laut Bundesamt für Verfassungsschutz mit etwa 31 000 Mitgliedern bundesweit die größte als islamistisch bezeichnete Organisation. Sie betreibt mehr als 300 Moschee- und Kulturvereine. Im Saarland gibt es dem Verfassungsschutz zufolge 200 Mitglieder in Gemeinden in Luisenthal und Schmelz. Nach eigenen Angaben sind es 165 männliche Mitglieder und ihre Familien. Der Name Milli Görüs (auf Deutsch: Nationale Sicht) geht auf Necmettin Erbakan zurück, den einstigen Mentor des türkischen Premiers Recep Erdogan. Der verstorbene Politiker forderte in der Türkei seit den 1970er Jahren eine "gerechte Ordnung" auf strenger islamischer Grundlage als Gegenpol zur herrschenden laizistischen Staatsdoktrin. Erbakan hatte sich zudem antisemitisch geäußert. 2010 gab es Ermittlungen gegen IGMG, weil ein Verein Hamas-nahe Hilfsgruppen im Gazastreifen unterstützt haben soll. CDU-Politiker forderten damals ein Verbot. Laut Behörden und Islam-Experten hat sich der deutsche IGMG-Dachverband reformiert. Er distanziert sich demnach deutlich vom Antisemitismus des Gründers und von der einst nahestehenden islamistischen Saadet-Partei in der Türkei. krt

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