Neue Wege gegen das Komasaufen

Völklingen

Völklingen. Sollte man den Versuch wagen, Jugendlichen an Schulen das Alkoholtrinken beizubringen? Nicht um sie auf den Geschmack zu bringen, sondern um ihnen einen verantwortungsbewussten Umgang mit dem Suchtgift zu vermitteln? Ein ungewöhnlicher, vielleicht revolutionärer Vorschlag, der bei den meisten Zeitgenossen spontan zu Bedenken führt - "das geht doch nicht, oder doch?!" So auch am vergangenen Mittwochabend im Völklinger Albert-Einstein-Gymnasium (AEG) in Völklingen, wo auf Initiative des Sicherheitsbeirates über das grassierende Exzess-Saufen junger Menschen geredet wurde.Der Suchttherapeut Wolfgang Bensel (AHG-Klinik Münchwies), seit 20 Jahren "im Geschäft", kam zu dem ernüchternden Fazit, dass man Jugendlichen das Trinken nicht mit dem moralisierenden Zeigefinger madig machen könne. Die herkömmliche "allgemeine Prävention" richte zu wenig aus gegen die "derzeit gestörte Trinkkultur" beziehungsweise gegen "hochriskante Trinkformen" (Komasaufen, Flatrate-Partys, Abschlussfahrt-Trinken). Alkohol gehöre zur Alltagskultur; und deshalb sei es angebracht, dass die jungen Leute das Trinken üben, um zu einem entspannten, normalen Gebrauch zu kommen, genau wie 85 Prozent der Bevölkerung. "Machen Sie Alkohol zum Alltagsthema", wünschte sich Bensel, übrigens selbst Vater eines Heranwachsenden. AEG-Leiter Wolfgang Pfaff, der darauf hinweisen konnte, dass die Schule Sommerfest und Abifeier alkoholfrei begangen hatte, fragte denn mal spontan in die knapp 100-köpfige Runde aus Lehrern, Eltern und Schülern, was von so etwas zu halten sei. Die meisten konnten sich nicht zu einem Urteil durchringen, vier waren dafür, zehn dagegen. Weil man es einer Schule nicht zutraut und weil man es grundsätzlich lassen sollte.Anlass für SZ-Redakteurin und Moderatorin Doris Döpke, nachzufassen: Wie würde denn so etwas gehen? Antwort: Nach den Vorschlägen, die der Therapeut Johannes Lindenmeyer in seinem Buch "Lieber schlau als blau" (sechs Auflagen bereits) unterbreitet: Teilnahme ausschließlich freiwillig mit Unterschrift der Eltern, maximal Herantrinken an die 0,3-Promille-Grenze, pädagogische und medizinische Überwachung, Video-Dokumentation. Es dürfe keinen Spaß machen, sondern müsse Arbeit sein, wurde versichert.Der Völklinger Kinderarzt Dr. Andreas Niethammer, der Schüler regelmäßig über die schädlichen Wirkungen des Zellgiftes Alkohol (vor allem auf junge Gehirne, Lebern und ungeborene Kinder) hinweist, brachte der Idee Sympathie entgegen. Seiner Erfahrung nach verfügten nahezu alle Jugendlichen über Erfahrungen mit Alkohol, jedenfalls mit mehr Alkohol, als in dem Trink-Unterricht verabreicht würde.Der Polizeibeamte Werner Michaltzik (Chef der Bouser Polizei) nannte das Komasaufen "ein Phänomen zum Ärgernis aller". Es werde in Völklingen an etwa 30, in Bous an etwa 20 Örtlichkeiten praktiziert, "die Promillewerte werden jedes Jahr höher". Der Polizeihauptkommissar berichtete von besten Erfahrungen beim Bouser Oktoberfest. Hier hatten die Beschicker auf den Ausschank von Schnaps verzichtet, wurden keine jugendlichen Bedienungen eingesetzt, zeigte die Polizei deutliche Präsenz und wurden Zugangskontrollen vorgenommen. In Völklingen sei die Resonanz auf solche Beschränkungen leider gering, so Michaltzik - jedenfalls bisher. "Machen Sie Alkohol zum Alltagsthema."Wolfgang Bensel, Suchttherapeut

Hintergrund"Lieber schlau als blau" für Jugendliche ist ein Programm, das in den Schulunterricht integriert werden kann. Im Mittelpunkt steht ein kontrolliertes Trinkexperiment, in dem die Jugendlichen (mit Zustimmung ihrer Eltern) die Auswirkungen des Trinkens anhand von Tests erkennen. Außerdem werden Trinknormen in der Klasse entwickelt. In Brandenburg wird das Programm bereits angewandt; ob es bei uns dazu kommt, steht noch in den Sternen. wp

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