Mordfall Röchling Folge 1 – Der Tatort in der Hütte Wie Inge Plettenberg den Fall nach fast 70 Jahren auflöste

Special | Völklingen · Vier Personen treffen auf dem Gelände der Völklinger Hütte aufeinander. Kurze Zeit später sind alle vier tot. In einem Podcast rollt die SZ den Mordfall Röchling, der Jahrzehnte lang ganz anders erzählt wurde, noch einmal auf.

Mordfall Röchling Folge 1: Der Tatort in der Hütte
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Folge 1: Der Tatort in der Hütte

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Foto: Jakob Hartung

An einem Wintertag im Februar steht Inge Plettenberg genau dort, wo es passiert ist. 1944 trafen hier zufällig vier Männer aufeinander. Zwei wurden sofort erschossen, die anderen beiden starben einige Wochen später. Der Tatort befindet sich mitten auf dem Gelände von Saarstahl in Völklingen. Unweit entfernt stehen riesige Fabrikhallen und hin und wieder fahren große LKWs vorbei. Das Stahlwerk ist aktiv. Doch die Schotterstraße, auf der die Historikerin Plettenberg steht, wirkt wie Niemandsland. Abseits liegen Schrott und Berge von verrosteten Eisenbahnschienen herum, außerdem noch einige hölzerne Eisenbahnschwellen, die grün überwachsen sind.

Was am 17. Dezember 1944 in der Völklinger Hütte passiert ist

„Hier stand die Schwellenadjustage. Das war eine Werkshalle, in der Schwellen für das betriebseigene Bahnnetz repariert wurden“, erklärt Plettenberg. „Das ist der eigentliche Tatort, an dem am 17. Dezember 1944 Carl Theodor Röchling und Heinrich Koch auf die Männer gestoßen sind, die sie dann erschossen haben.“

Am 17. Dezember im letzten Winter des Krieges lag eine ungewohnte Stille über dem riesigen Eisen- und Stahlwerk. Große Teile des Saarlandes waren evakuiert, Völklingen zur „roten Zone“ erklärt und alliierte Soldaten nur noch wenige Kilometer entfernt. Die Waffenproduktion war stillgelegt und das sonst ohrenbetäubend laute Werk verstummt.

Die Schüsse auf Carl Theodor Röchling und Heinrich Koch

Inge Plettenberg hat die Ereignisse rund um die Tat umfassend rekonstruiert. Carl Theodor war der Sohn von Stahlbaron und Hitler-Vertrautem Hermann Röchling. Der Juniorchef war trotz Evakuierung bei seinem Werk zurückgeblieben. Am Morgen des 17. Dezembers traf er sich mit seinem Oberingenieur Heinrich Koch in dessen Wohnhaus zum Frühstück. Dann machten sie einen Rundgang durch das Werk. Bei der Schwellenadjustage blickten sie durch ein Fenster und entdeckten dort zwei Personen. Röchling, der eine Waffe dabei hatte, und Koch eilten zum Eingang der Werkshalle, um sie zu stellen. Sie trafen auf Nikolaj Bonka und Wassilij Djatschenko, zwei junge Männer aus ukrainisch-russischen Gebieten der Sowjetunion. Sie zückten ihre Gewehre und erschossen Röchling und Koch an Ort und Stelle. Dann versteckten sie die Leichen in der Halle und tauchten unter.

Ein dritter Name in der Saarbrücker Zeitung

Der Mordfall wurde damals aufgeklärt und vor Gericht gebracht. Das Deutsche Reich brach an vielen Stellen schon zusammen, als Bonka und Djatschenko der Prozess gemacht wird. Die Schüsse auf Röchling und Koch seien eine „ruchlose und heimtückische Tat“ gewesen, schreibt die Saarbrücker Zeitung im Februar 1945. In diesem Artikel wird auch noch eine dritte Person erwähnt, die in Saarbrücken auf der Anklagebank sitzt. Matrjona Kalita kommt als einzige mit dem Leben davon.

Es brauchte lange, bis Inge Plettenberg sie endlich ausfindig machte. Plettenberg wurde 1946 in Merzig geboren und hat bei der SZ volontiert. Danach hat sie in Geschichte promoviert und später Fernsehen für den Saarländischen Rundfunk gemacht. 1992 schreibt sie zum ersten Mal über den Mordfall Röchling. Es brauchte fast 20 Jahre, bis Plettenberg nach Russland reisen konnte, um Matrjona Kalita zu interviewen.

Das Interview mit Matrjona Kalita

Die 90-jährige Kalita wohnte in Sankt Petersburg und hatte den Großteil ihres Lebens nicht über ihre Erlebnisse als Zwangsarbeiterin bei den Röchlings gesprochen. „Sie war eine alte Frau, aber ungeheuer präsent. Sie wirkte geradezu erleichtert, dass sie mal erzählen konnte“, erinnert sich Plettenberg. Kalita wurde im Krieg aus der Ukraine gepresst und landete als Zwangsarbeiterin im Saarland. An der Drehbank bei den „Röchling’schen Eisen- und Stahlwerken“ baute sie Waffen und schlief in großen Lagern. Wegen einer Kleinigkeit landete sie im Straflager Etzenhofen und schuftete 12 Stunden lang in der Kokerei. Bei einem Arbeitsunfall verlor sie einen Finger.

Ende 1944 wurde die Völklinger Hütte stillgelegt und Kalita tauchte unter. Am 17. Dezember versteckte sie sich mit einer anderen Zwangsarbeiterin und ihrem Kind auf dem Fabrikgelände. Nikolaj Bonka war der Vater des Kindes. Und als Röchling und Koch an der Schwellenadjustage auftauchten, drückten er und Djatschenko ab. Kalita erinnert sich, dass einer der beiden Deutschen noch nicht tot war. „Wenn ihr mich verschont, dann fliege ich euch in eure Heimat“ soll Carl Theodor Röchling versprochen haben, bevor er starb.

Aufgrund ihres fehlenden Fingers machte die Polizei Kalita ausfindig und sie landete im Gefängnis. Die Amerikaner befreiten sie und Kalita kehrte in die Ukraine zurück. In Deutschland gerieten derweil die Täter sowie Kalita in Vergessenheit. Denn nach dem Krieg verbreitete die Familie Röchling eine Legende über den Tod von Carl Theodor. Diese völlig andere Geschichte heroisierte den Juniorchef. Die Ermittlungen und das Urteil wurden dafür verdrängt. Die Legende konnte sich so lange halten, bis Inge Plettenberg mit ihrem Film „Röchlings letzte Zeugin“ ihr die Glaubwürdigkeit nahm. Carl Theodor Röchling und Heinrich Koch wurden von zwei Zwangsarbeitern aus der Sowjetunion erschossen.

In der zweiten Folge von Mordfall Röchling geht es um die Opfer der Tat.

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