Abtauchen in die Vergangenheit Abtauchen in die Vergangenheit

Eigentlich hat man längst seinen eigenen Hausstand gegründet. Und eigentlich gibt es genügend Möbel und Krimskrams. Dann sterben die Eltern, und ein längst vergangenes Szenario steigt empor. Dann die Frage, wohin mit dem Nachlass?

Abtauchen in die Vergangenheit : Abtauchen in die Vergangenheit
Foto: SZ/Robby Lorenz

Jahr 1946: „Macht euch keine Hoffnung, dass ich demnächst nach Hause kommen kann. Wir hier wissen es besser.“ Die Karte aus dem Dépot de prisonniers de guerre (Kriegsgefangenenlager) schrieb mein Vater aus dem tunesischen Bizerta an seine Eltern. Zwei Jahre später kehrte er heim - malariakrank, 23 Jahre alt. Viele dieser vergilbten Karten aus der französischen Kriegsgefangenschaft fielen mir jetzt in die Hände. Und nicht nur die. Woche um Woche sortiere ich Briefe, Dokumente, Bücher, überlege, was mit den Möbeln geschehen soll.

Irgendwann trifft es wohl jeden, die Eltern sterben, und wir, die Kinder, sortieren den Nachlass. Geschirr mit Goldrand und Blümchendekor, 60-teilig, holte ich aus dem Keller, neben vier weiteren Geschirren. Dabei sind auch Fotoalben mit mir unbekannten Bildern. Meine Oma als junge Frau 1928 auf Wangerooge. Das alte Haus der Familie, das der Urgroßvater erbaute, vor dem Krieg, bevor es von zwei Bomben zerstört wurde. Aber auch die prächtige Villa nebenan ist zu erkennen, mit hohen Säulen an der Veranda. Auf dem Grundstück bin ich noch in den 60er Jahren im tiefen Bombenkrater herumgeklettert. Por­träts von der toughen Uroma, die, wie es hieß, um die Scheidung durchzuboxen, einen Schauspieler anheuerte und mit ihm in einer offenen Kutsche durch die Stadt fuhr, kompromittierend und erfolgreich. Briefe auch von mir als 15-Jährige, wo ich frage: „Hast Du Dich auch in meinem Alter so alt und gelangweilt gefühlt?“ Meine Mutter hat vieles aufbewahrt. Und plötzlich ist man wieder mittendrin in dieser Zeit. Streit mit den Brüdern, die Demo, für die ich den Unterricht verließ - gegen den erklärten Willen der Schulleiterin. Die Erinnerungen bleiben, aber was macht man mit dem familiären Krimskrams? „Hole den Entrümpler“, rät eine Bekannte. „Zack, alles weg, und Du hast Ruhe.“ Das bringe ich nicht übers Herz, ebenso wenig wie meine Freundin, deren Mann vor zwei Jahren starb. Noch heute liest sie in seinen Aufzeichnungen, entdeckte, dass er über jedes Detail Tagebuch führte, ihre Zeichnungen alle aufbewahrte.

 Eine von vielen Karten aus dem Kriegsgefangenenlager in Bizerta aus dem Nachlass der Familie.

Eine von vielen Karten aus dem Kriegsgefangenenlager in Bizerta aus dem Nachlass der Familie.

Foto: Angelika Fertsch

Ich habe mich entschieden: In meiner Wohnung stapeln sich die Kartons. Wahrscheinlich werde ich wie meine Mutter in ihren letzten Jahren in Erinnerungen kramen, in schlaflosen Nächten Fotoalben anschauen und lerne dabei die Vorfahren und ihre Geheimnisse ein bisschen besser kennen. Jetzt aber hat die Gegenwart (noch) Vorfahrt. Und meiner Freundin rate ich das auch, wenn sie zu sehr abdriftet in die alten Zeiten, die sie immer mal wieder herbei sehnt, die aber unwiderruflich  vorbei sind.

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