Warum liebt mich meine Mutter nicht? Ein Radio-Tatort über die Folgen verdrängter Kriegstraumata „Warum liebt mich meine Mutter nicht?“

Saarbrücken · In der Stadtbibliothek Saarbrücken konnte man den neuesten SR-Radio-Tatort „Lange Schatten“ vorab hören. Das Thema um nicht verarbeitete Kriegstraumata ging manchen Zuhörern sehr nah.

„Froh zu sein bedarf es wenig.“ Eine klare Mädchenstimme summt die Melodie, gleich darauf ertönt eine garstige Tröte à  la Kindergeburtstag – nicht zu überhören, aber, wenn man so will, eine akustische Täuschung. Denn zwischen beiden Geräuschen liegen sieben Jahrzehnte. Nur ahnt das hier im Erdgeschoss der Stadtbibliothek im Moment noch niemand.

Später werden Sirenen zu hören sein, Einschläge von Bomben und Stiefel, die im Gleichschritt übers Pflaster dröhnen. Spätestens dann dämmert es auch dem Letzten: Es handelt sich um Rückblenden in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Die Tröte dagegen läutet die kleine Party anlässlich des 25-jährigen Dienstjubiläums von Hauptkommissar Paquet ein, das Anno 2018 mit Käsekuchen und Crémant in der fiktiven Dienststelle des saarländischen Radio-Tatorts gefeiert wird.

Den Passanten draußen vor dem Schaufenster geben die im Lesecafé sitzenden und reglos in die Luft starrenden Frauen und Männer sicher Rätsel auf.  Man sieht keinen Redner, keine Podiumsrunde. Meditieren die? Nein, sie lauschen dem ARD Radio-Tatort „Lange Schatten“: Darin stirbt Renate, 79 und kerngesund, eines gewaltsamen Todes. Als Täter kommen nur ihre Schwester und die Kinder in Frage, die Motive reichen weit in die Vergangenheit zurück. Später wird SR-Hörspielredakteurin Anette Kürmeier fragen, ob es „zu wenig Krimi“ gewesen sei und dafür zu viel Zeitgeschichte. Nein, schüttelt das Auditorium die Köpfe. Anders als andere sei er aber schon, dieser Tatort, sehr intensiv und berührend.

Für Autorin Madeleine Giese trägt er Züge einer Selbsttherapie. Mit 50 habe sie sich gefragt: „Warum liebt mich meine Mutter nicht“. Immerhin: „Anderen ging es ähnlich.“ Dieser Verlust von Empathie, diese Kälte – sie resultieren aus nie verarbeiteten, tot geschwiegenen Kriegstraumata einer ganzen Generation. Die sich leider vererben, wie der Krimi offenbart und wie es einige Zuhörer bestätigen. „Ich müsste ihn noch mal hören“, meint eine Dame, für die „Lange Schatten“ der erste Radio-Tatort war. „Da ist einiges hochgekommen“, was sie von der Handlung abgelenkt habe. Für Annette Kürmeier das schönste Kompliment überhaupt.

Hörspiele haben „eine ganz andere Emotionalität“ als ein Film oder Buch, sagt Madeleine Giese. „Ich habe zehn Jahre gebraucht, um das zu verstehen.“  Diskutiert wurde unter anderem auch die Beziehung des väterlichen Paquet zu seiner jungen Assistentin Amelie Gentner. Den erotischen Unterton, den eine Zuhörerin da ausgemacht haben wollte, verneinte Annette Kürmeiser amüsiert: Michel Paquet hat die junge Kollegin nicht gefüttert, nur probieren lassen. Aber das ist letztlich das Schöne am Hörspiel: In jedem Kopf läuft ein anderer Film.

Der Radio-Tatort „Lange Schatten“ wird am Sonntag, 18. März, 17.04 Uhr, auf SR 2 Kulturradio gesendet.

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