Offener Brief Über 100 Kulturschaffende machen mobil

Saarbrücken · Die freie Kulturszene ist in Aufruhr. Jetzt wenden sich viele Künstlerinnen und Künstler per offenem Brief an den Oberbürgermeister und den Stadtrat.

 Wohin soll es gehen mit der Förderpolitik der Stadt Saarbrücken für die freie Szene? Ein offener Brief, den viele Kulturschaffende unterschrieben haben, formuliert die Bedenken gegen eine Jury-Lösung und gegen den zunehmenden Einfluss eines „Popkultur-Lobbyverein“ auf die städtische Kulturpolitik. Unser Symbolfoto zeigt eine alte Produktion des Liquid Penguin Ensembles, „Bout du monde“. Foto: LPE

Wohin soll es gehen mit der Förderpolitik der Stadt Saarbrücken für die freie Szene? Ein offener Brief, den viele Kulturschaffende unterschrieben haben, formuliert die Bedenken gegen eine Jury-Lösung und gegen den zunehmenden Einfluss eines „Popkultur-Lobbyverein“ auf die städtische Kulturpolitik. Unser Symbolfoto zeigt eine alte Produktion des Liquid Penguin Ensembles, „Bout du monde“. Foto: LPE

Foto: BellhÅ user; Kirsch

Es rumort in der Saarbrücker Kulturszene. Vor drei Wochen hatte sich der Kulturunternehmer Frank Lion (Theaterschiff Maria-Helena) mit einigen Unterzeichnern in einem offenen Brief an Oberbürgermeister Uwe Conradt gewandt, um eine neue Kulturförderungs-Politik zu fordern (wir berichteten).

Jetzt folgt ein ebenso offener Brief der freien Kulturszene der Stadt, die sich in Teilen dezidiert gegen die von Lion und seinen Mit-Unterzeichnern geforderte Politik wendet.

In dem Schreiben, das vom Countertenor Ralf Peter und rund 130 professionellen Künstlerinnen und Künstlern sowie einigen Unterstützern unterschrieben ist, wenden sich die Kreativen  gegen die aktuell von der neuen Rathaus-Spitze präferierte Jury-Lösung bei der Vergabe der Fördermittel für freie Kulturprojekte und fordern die „Aufrechterhaltung eines transparenten Förderverfahrens mit ambitionierten Schwerpunkten“.

Des weiteren fordern die Sängerinnen und Musiker, die Schauspielerinnen und Komponisten, die Puppenspielerinnen und Klangkünstler unter anderem die Sicherung des Theaters im Viertel als Spielstätte der Freien Szene sowie die Entwicklung und den Ausbau einer Spielstätten-Infrastruktur in der Stadt. Auch die Sorge um den Erhalt der renommierten Saarbrücker Sommermusik, eines Festivals, bei dem alljährlich ein Großteil der Szene die Möglichkeit hat, Projekte zu entwickeln und aufzuführen, treibt die Unterzeichnenden um.

In einem Punkt aber sind sich  die Initiatoren beider offenen Briefe  einig: Der Kulturetat und insbesondere der Förderetat für die Freie Szene müsse deutlich erhöht werden.

 Wir drucken den Brief in Auszügen: „Die Landeshauptstadt Saarbrücken hat mit ihrer bisherigen Kulturförderung erheblich zur Etablierung und Professionalisierung einer ebenso experimentierfreudigen wie soliden Freien Musik-, Theater- und Kunstszene beigetragen. Diese hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einem bedeutenden Bestandteil des nicht kommerziell ausgerichteten Kulturlebens entwickelt. (. . )

Nicht wenig hat zu dieser Leistungsfähigkeit ein durchdachtes Förderverfahren beigetragen, das mit definierten und transparenten Kriterien zielgerichtet bezuschusst und damit zugleich längerfristige Aufbaustrategien verbindet. Wie auch bei andernorts üblichen Verfahren entscheidet der städtische Kulturausschuss, das demokratisch gewählte Gremium der Bürgerschaft, über die gestellten Anträge. Seine Entscheidungen sind gegründet auf ausgearbeitete Expertisen des Kulturamts, dessen vor Jahren dazu bestellter Kulturexperte sich wiederum strikt auf die vom Stadtrat beschlossenen Förderziele bezieht. Entgegen mancher Behauptung werden so alle Entscheidungen demokratisch gefällt, sind öffentlich dargestellt und auch jederzeit verifizierbar.

Dieses „Saarbrücker Modell“ fördert aber nicht nur, sondern es stellt, als wichtiger Bestandteil, den geförderten Projekten auch Auftrittsmöglichkeiten vor größerem Publikum bereit. So wurde z. B. die Saarbrücker Sommermusik (bei freiem Eintritt und als Geschenk der Stadt an ihre Bürgerschaft) in dreißig Jahren zu einem weit beachteten Musik- und Theaterfestival entwickelt (. . )

Ob das nun anvisierte Jury-Modell zur Förderantrags-Bewertung leistungsfähiger ist, bleibt fraglich. Im besten Fall werden Experten nach persönlichem Geschmack urteilen, jedoch nicht nach einer auf Langfristigkeit abzielenden Strategie. Zudem birgt das Modell Potential für viel Unmut und ständige Konflikte, da es z. B. gänzlich unklar bleibt, wie eine Jury nach fairen Kriterien ausgewählt werden kann (. . ).

Es ist ziemlich absurd, hat sich aber soeben schon exemplarisch gezeigt, dass Protagonisten aus jenen Kultureinrichtungen wie SR und Staatstheater als Juroren berufen werden, denen die Freie Szene – das ist ihr essentieller Markenkern! – programmatische und künstlerische Alternativen (selbst-)bewusst entgegenstellt. Noch bedenklicher ist die Berufung mehrerer Juroren aus dem Umfeld eines expansiven Popkultur-Lobbyvereins, welche an Förderentscheiden für dessen Vereinsmitglieder beteiligt sind. (Das hat wirklich ein „Geschmäckle“ und kann so nicht hingenommen werden!) (. . )

Und darüber hinaus: Ohne langjährigen Einblick in die Produktivität einer Musik- und Theaterszene kann auch eine unabhängige Jury nur nach Absichtserklärungen in Anträgen urteilen; soll sie dann auch noch alle zwei Jahre neu besetzt werden, wechseln folglich auch die persönlichen Geschmäcker, und die Förderung wird am Ende völlig beliebig. So wird das in Saarbrücken über Jahre entwickelte, markante Profil einer Freien Szene im Handstreich existenziell gefährdet! (. . )

Wenn nun neuerdings auch die auf kommerziellen Gewinn abzielenden Sparten Kreativwirtschaft und Unterhaltungskultur (wichtige Bestandteile gesellschaftlichen Lebens) gefördert werden sollen, müssen dafür eigene Etats und Förderkriterien errichtet werden; und zwar getrennt von der freien künstlerischen Szene, da es sich um völlig heterogene Phänomene mit eigenständigen Expertisen handelt. (. . )

Noch ein Wort zu einem anderen drängenden Thema: Das Theater im Viertel ist für viele ein beliebter Aufführungsort, auch wegen seiner räumlichen Intimität. Aber genau deshalb ist es für manche Produktion der Freien Szene, will sie größere Raum- und Spielformen wagen, nicht geeignet, v. a. in der momentanen Corona-Situation. Wir brauchen dringend zusätzliche Spielstätten (. . ),. Können solche Stätten nicht zur Verfügung gestellt werden, sollte die Stadt dauerhafte Kooperationen mit Partnern und Institutionen anstreben, die über entsprechende Podien verfügen (z. B. Stiftung Saarländischer Kulturbesitz, Regionalverband, Land, Hochschulen etc.), und auch Mittel zur Verfügung stellen, um diese Räumlichkeiten für künstlerische Projekte zu erschließen.“

Das komplette Schreiben findet man auf der Seite des Netzwerks Freie Szene Saar unter: freieszenesaar.de

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