Zwischen Heimat und Endstation

Neunkirchen · In seiner Fotoserie vom Berliner Alexanderplatz dokumentiert Göran Gnaudschun das Leben der Punks und Skins dort und erzählt zugleich vom Lebensweg, von Wünschen und Träumen der Porträtierten.

 Fotograf Göran Gnaudschun in seiner Ausstellung „Alexanderplatz“. Foto: Thomas Seeber

Fotograf Göran Gnaudschun in seiner Ausstellung „Alexanderplatz“. Foto: Thomas Seeber

Foto: Thomas Seeber

Der Fernsehturm im Nebel, ein im Brunnen der Völkerfreundschaft planschendes Pärchen, Krähen im Nachthimmel, eine tote Ratte im Schnee und immer wieder Gesichter - von Jule, Mel, Sascha, Paule, Manson, Mücke, Shelley und all den anderen. Sie gehören quasi zum Inventar des Berliner Alexanderplatzes, viele von ihnen Punks, auch ein paar Skins - die einen erst frisch auf der Straße gestrandet, die anderen schon halbe Ewigkeiten "draußen". Göran Gnaudschun hat sie porträtiert.

Er ist nicht einfach so hingegangen und hat die Kamera draufgehalten. Dreieinhalb Jahre hat sich der Potsdamer Fotograf Zeit gelassen, um in diesen Ort der Extreme, an dem sich tagtäglich 360 000 Menschen im Bermudadreieck aus Weltzeituhr, U-Bahnstationen und Shoppingzentren bewegen, einzutauchen. Dabei entstanden ist "eine eindrucksvolle, ungemein vielschichtige und zutiefst bewegende Arbeit über eine Szene von jungen Ausreißern, Obdachlosen, Randexistenzen und Selbstdarstellern, denen der Platz zu einer Art Heimat auf Zeit geworden ist", so Nicole Nix-Hauck, Leiterin der Städtischen Galerie Neunkirchen, in ihrer Laudatio bei der Vernissage. "Göran Gnaudschun gelingt es auf sehr subtile Weise, eine fast verschüttet geglaubte Würde und eine ganz eigene Schönheit ans Licht zu bringen." Angefangen hatte alles mit ein paar Reportage-Fotos über die Jugendszene am Alex für eine Wochenzeitung. Doch Gnaudschun, Bildender Künstler, Freiberufler und Dozent am Institut für Künste und Medien, wollte näher heran, wollte wissen, wer dort sitzt, was diese Menschen antreibt und was sie an seelischem Ballast mit sich herum schleppen.

Also verbringt er einen Tag pro Woche mit ihnen, Woche für Woche, Monat für Monat. Und fotografiert. Aber er stiehlt nicht die Momente. "Ich bin einer, der etwas mit jemandem macht", erklärte der anwesende Künstler. Er fragt, ob er fotografieren darf - und geht manchmal heim, ohne ein einziges Mal den Auslöser gedrückt zu haben. In der Städtischen Galerie, wo er 2007 schon einmal mit seiner Porträtserie "reif" zu Gast gewesen war, outete sich Gnaudschun erkältet, aber gut gelaunt als "schreibender Fotograf": "Irgendwann kommt die Fotografie an ihre Grenze, sie bleibt an der Oberfläche, ohne zu zeigen, was dahinter steckt." Weshalb er die Jugendlichen zusätzlich interviewte und ihre Geschichten niederschrieb.

Dazu kamen eigene Texte "über seine Eindrücke und Erlebnisse, die alles präsent halten, aber auch wieder etwas Abstand verschaffen können", wie Nicole Nix-Hauck erläuterte. Tatsächlich gewann für die zahlreich erschienenen Zuhörer an diesem sommerlichen Abend das Gesehene durch die Lesung des Künstlers an seelischer Tiefenschärfe und empathischer Substanz - auch oder gerade weil es oft nur dokumentarische Miniaturen waren, die Gnaudschun Revue passieren ließ. Wie jene von der Bulldogge, die nachts mit in den Schlafsack darf oder von der Punkerin, die vom eigenen Blumenladen träumt.

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