Wütende Parabel auf Gesellschaft, die das Individuum unterjocht

Saarbrücken. Cellophan überspannt fast alles auf der Bühne, Wände, Boden, das Sofa. Hinter einer Steinwand türmt sich ein Kleiderberg. Kerno (Gabriel Schneider) und Lisbeth (Jannica Hümbert) vegetieren in diesem trostlosen Raum, schieben Paranoia, haben kein Gestern, kein Morgen und wissen nicht, was das Heute soll. Sie sehen ungesund aus, noch halten sie eine sachte Balance

Saarbrücken. Cellophan überspannt fast alles auf der Bühne, Wände, Boden, das Sofa. Hinter einer Steinwand türmt sich ein Kleiderberg. Kerno (Gabriel Schneider) und Lisbeth (Jannica Hümbert) vegetieren in diesem trostlosen Raum, schieben Paranoia, haben kein Gestern, kein Morgen und wissen nicht, was das Heute soll. Sie sehen ungesund aus, noch halten sie eine sachte Balance. Bis Kaspar (Anna Schimrigk) zu ihnen hineinpurzelt und mit ihm eine scheinbar unkalkulierbare Gefahr. Bei der Premiere von "Das Kaspar-Hauser-Syndrom", einem Stück des erst 20-jährigen Autors Jan Meyer, sitzt das TiV voller junger Leute - ausverkauft. Das Projekt von Jugendlichen für Jugendliche benutzt die Kaspar-Hauser-Figur, den plötzlich Aufgetauchten, Andersartigen als Aufhänger für ein Stück über Ich-Verlust und Fremdbestimmung. Kerno und Lisbeth sind gefangen in ihren paar Gewohnheiten und Phrasen, rotieren in ihrer Isolation, schlafen, um zu fliehen und haben Angst vor den eigenen Gedanken. Das gegenseitige Therapieren ist eine Farce, die endet, wenn sie etwas aufdecken könnte. Lisbeth und Kerno schreien und wüten in ihrer Furcht vor dem Nichts, das zugleich endgültige Loslösung von allem bedeutet - sie ist die verhuscht Verzagte, er überbordend aggressiv. Den Regeln ignorierenden Kaspar will er mundtot machen, damit er nicht nachdenken muss, kein Mensch werden muss in einer inhumanen Welt. Schneider, ungeheuer energisch, und Hümbert agieren brillant in ihrer Raserei, wunderbar auch Schimrigk als irritierender Kaspar, ein junges Trio mit überdurchschnittlichem Potenzial. Kann man nur man selbst sein, wenn es keine anderen mehr gibt, die einen verändern könnten? Muss man töten, um "Ich" zu sein? Meyers Stück mag man auch als wütende Parabel auf eine das Individuum unterjochende, medial bestimmte Gesellschaft sehen, das von sozialer Verwahrlosung erzählt, aufrüttelnd und beängstigend. rr

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