„Wo liegen unsere Versäumnisse?“

Die Kirchen verlieren Mitglieder, aber auch die Gläubigen besuchen immer seltener den Gottesdienst. Was die Kirchen dagegen tun sollten und wie sich das Verhältnis zwischen Staat und Kirche ändert, darüber sprach SZ-Redakteurin Ute Klockner mit Martin Lörsch, Theologie-Professor an der Universität Trier und Priester.

 Martin Lörsch

Martin Lörsch

Foto: privat

2014 war ein Jahr ohne Missbrauchsskandal oder Wirbel um Prunkbauten in Limburg. Dennoch gab es so viele Kirchenaustritte wie nie. Warum?

Lörsch: Ein wesentlicher Auslöser ist das geänderte Verfahren für den Einzug der Kirchensteuer bei Kapitalerträgen. Die Umstellung bedeutet zwar keine Veränderung der Kirchensteuer , hat aber wohl bei manchen Menschen ein Nachdenken ausgelöst: Sie fragen sich, was bringt es mir noch, Mitglied der Kirche zu sein?

Früher hat man sich auch mal über die Kirche geärgert. Ein Austritt war aber undenkbar. Was hat sich geändert?

Lörsch: Die Bindung zur Kirche hat sich bei vielen grundlegend verändert. Früher gab es so etwas wie eine natürliche Zugehörigkeit, die man quasi in den Genen hatte. Heute pflegt man den Kontakt mit der Kirche wie ein Kunden-Dienstleister-Verhältnis, vergleichbar mit dem ADAC .

Haben Sie eine Idee, wie sich das ändern lässt?

Lörsch: Die letzte Mitgliederstudie der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) von 2014 hat gezeigt: Wo Menschen überzeugende Persönlichkeiten der Kirche im eigenen Umfeld erleben, erhöht sich die Bindekraft der Kirche. Nach wie vor haben wir neben den Priestern sowie den Seelsorgerinnen und Seelsorgern eine unglaublich große Anzahl von Mitarbeitern, etwa in den Sozialstationen der Caritas , in Krankenhäusern und Kindergärten, in den kirchlichen Verbänden. Sie sind wichtige Markenträger von Kirche, wenn sie rüberbringen können: Ich gehöre zu dieser Kirche und ich bin Mitglied aus Überzeugung. Viele tausend Eltern bringen ihre Kinder täglich in unsere Kindergärten, viele vertrauen ihre Kinder unseren Jugendverbänden in der Sommerfreizeit an. An vielen Orten ist Kirche präsent, aber sie muss sich noch überzeugender zu erkennen geben. Ein Beispiel: Warum hängen wir nicht an unsere Kitas Plakate mit einem einladenden Foto der Erzieherinnen und der Aufschrift: "In diese Einrichtung ist im letzten Jahr so viel Kirchensteuer geflossen. Herzlichen Dank allen, die diese Arbeit mit ihrem Beitrag ermöglicht haben und die unsere Arbeit unterstützen!"

Glauben die Menschen einfach an nichts mehr?

Lörsch: Bei vielen nehme ich eine spirituelle Sehnsucht wahr. Religion kommt in Bewegung, diese führt aber eher raus aus den christlichen Kirchen und hin zu einer egozentrierten Spiritualität. Diese Entwicklung bezeichnen Fachleute als De-Insitutionalisierung und betrifft alle großen Institutionen. Manche Menschen haben auch Angst, sich an eine Gemeinde zu binden und ein Stück ihrer Freiheit aufzugeben. Mit diesen Entwicklungen muss Kirche behutsam umgehen. Die christliche Botschaft ist so zu vermitteln, dass sie als offene Einladung erfahren werden kann: Zu einer punktuellen Begegnung, für ein gemeinsames Wegstück oder für die verbindliche Form der Mitgliedschaft. Die Botschaft selbst halte ich angesichts der Herausforderungen, die wir in unserem Land zu bestehen haben, für aktueller denn je.

Die De-Institutionalisierung zeigt sich auch bei der Zahl der Gottesdienstbesucher. Nur noch neun Prozent der Kirchenmitglieder besuchen diese . . .

Lörsch: Auf der anderen Seite kann man beobachten: Wo das Leben der Menschen ins Spiel und zur Sprache kommt, wo der Gottesdienst lebensrelevant wird, ist die Kirche voll. Vor einigen Wochen konnte ich das bei der Aussendungsfeier von Jugendlichen erleben, die als Freiwillige für ein Jahr ins Ausland gehen. Offensichtlich haben sie im Gottesdienst gemerkt, da geht es um uns. Die religiöse Sprache mit der Lebenswirklichkeit der Menschen zu verknüpfen, gelingt uns vielleicht zu selten.

Luxemburg treibt zurzeit vehement die Trennung von Staat und Kirche voran. Sehen Sie diese Entwicklung auch in Deutschland?

Lörsch: Ich habe den Eindruck, dass die Situation in Luxemburg nicht mit der in Deutschland zu vergleichen ist. Aber langfristig gehe ich davon aus, dass sich auch bei uns das Verhältnis von Kirche und Staat verändern wird. Spätestens dann, wenn der Anteil der Christen unter 50 Prozent gesunken ist, wird das Auswirkungen auf das Verhältnis des Staats zu den christlichen Kirchen haben. Deshalb sollte die Kirche bereits heute lernen, sich als Teil der Zivilgesellschaft zu begreifen. Kirche wird lernen, sich demütig und zugleich engagiert als ein gesellschaftlicher Mitspieler in die Veränderungsprozesse einzubringen. Sie hat auch morgen einen wichtigen Beitrag zur Humanisierung auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu leisten. Daher will ich nicht den Rückzug aus der Welt, ich will keine unpolitische Kirche!

Lässt sich das Ruder noch herumreißen?

Lörsch: Ich finde die Zeit ungemein herausfordernd, weil sie uns zwingt, aus dem gewohnten Trott auszubrechen. Wir leben in einer Zeit, in der wir wachgerüttelt werden. Wir haben unsere kirchlichen Angebote selbstkritisch zu hinterfragen, vielleicht auch manchen langweiligen Gottesdienst! Wir haben zu schauen, wo unsere Versäumnisse liegen und wo wir uns lieblos verhalten haben. Trotzdem schaue ich mit Hoffnung in die Zukunft: Für die Kirche wurde in ihrer 2000-jährigen Geschichte manches Mal das Sterbeglöckchen geläutet. Aber dann ist in einer schweren Krisen Neues entstanden.

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