Verwirrspiel der Sinne auf dem Schiff
Saarbrücken. Geschmückt wie eine chinesische Puff-Dschunke sei sie gewesen, die "Joyce-Medea", wird der Major später sagen. Boris Pietsch, der Mann, der sich Major nennt, sitzt im Bauch des Bootes auf dem Landwehrplatz. Auf Deck flackern Fackeln. In der Kajüte am warmen Holzofen liest der Major eine Geschichte aus dem "Spiegel" vor
Saarbrücken. Geschmückt wie eine chinesische Puff-Dschunke sei sie gewesen, die "Joyce-Medea", wird der Major später sagen. Boris Pietsch, der Mann, der sich Major nennt, sitzt im Bauch des Bootes auf dem Landwehrplatz. Auf Deck flackern Fackeln. In der Kajüte am warmen Holzofen liest der Major eine Geschichte aus dem "Spiegel" vor. Den ganzen Tag über sind Freunde und Bekannte zum "literarischen Grog" gekommen. Jetzt rücken die Übriggebliebenen für die Neuankömmlinge zusammen.
Immer, wenn im Text ein Punkt steht, liest der Major "Alter". Kommt ein Komma, sagt er "Digger". Frage- und Ausrufezeichen werden zu "meine Mutter". Das klingt dann so: "Was macht ein Chef, Alter, der schon zwei Sterne erkocht hat, meine Mutter? Er träumt, Digger." In der Geschichte, die die "Spiegel"-Autorin Helene Zuber irgendwann im Sommer geschrieben hat, geht es um den Madrider Koch Paco Roncero. So wie der Major sie vorliest, bekommt der Titel der Geschichte - "Verwirrspiel der Sinne" - eine ganz neue Dimension. Darum geht es auf der "Joyce-Medea": um neue Blickwinkel.
Als der Schauspieler Boris Pietsch das Schiff Anfang Oktober mit Freunden auf dem Landwehrplatz aufstellte, lautete der Kurs: Spinnerei auf Wirklichkeit treffen lassen. Und Antworten auf die Frage zu suchen: "Was wollen wir mit unserer Gesellschaft tun, damit wir nicht weiter gegen die Wand fahren?" Das Schiff sollte ein Ort werden, an dem sich Menschen begegnen können, die den Eindruck haben, dass etwas schiefläuft auf dieser Welt.
Antworten gibt es durchaus. Solche, die mehr Fragen aufwerfen, als sie beantworten. Aber wenn es stimmt, was der Autor und Abenteurer Helge Timmerberg schreibt und die Romantik der christlichen Seefahrt in den Häfen zu finden ist und nicht dazwischen, dann ist die "Joyce-Medea" gut unterwegs irgendwo zwischen Hafenromantik und den Gefahren des Meeres, das sich Leben nennt.
Draußen rauscht in regelmäßigen Abständen die Saarbahn vorbei. Es klingt jedes Mal, als tauche neben dem Boot ein Ungeheuer aus der Tiefe auf. Der Autor Bernd Nixdorf hat gerade eine Geschichte aus der Psychiatrie gelesen. Sein Schriftstellerkollege Hans Gerhard nippt an seinem Rum, schaut durch das Fenster des Holzofens ins Feuer und sagt: "Der Ofen ist unser Fernseher." Alexander Karle, der bärtige Künstler aus dem Nauwieser Viertel, ist müde und geht nach Hause. "Ich hoffe, dass wir den Vertrag sechs Monate verlängern können und dass mehr Menschen die Möglichkeit dieses Ortes nutzen", sagt er am nächsten Tag. Er selbst arbeitet an einer Installation rund ums Boot. Es geht dabei darum, dass "sehr viele Menschen zusammen aus dem Wald Stöcke holen und zum Boot bringen", erklärt Karle. Die Stöcke sollen um das Schiffchen herum aufgestellt werden. Und dann hat Alexander Karle noch einen Wunsch: Er will ein "Beiboot" neben der "Joyce-Medea" haben.
Bis nach dem Filmfestival "Max Ophüls Preis" soll das Schiff auf jeden Fall noch vor der Alten Feuerwache stehen, sagt der Major. Noch länger wäre gut, weil es doch schön wäre, mit Leuten auf Deck in der Sonne zu sitzen, denkt der Major laut nach. Als Hans Gerhard die warme Kajüte verlässt, um auf Deck über einen Lautsprecher eine Geschichte aus seinem neuen Buch "alles was wir brauchen" vorzulesen, ist es kurz nach halb zehn. Aus der Alten Feuerwache kommen Leute, die sich die letzte Aufführung von "Endstation Sehnsucht" angesehen haben. Diejenigen, die näherkommen und am Schiff stehen bleiben, wirken wie hungrige Fische, die darauf warten, dass etwas über Bord geworfen wird. Auch ein paar junge Leute, die offenbar auf dem Weg zum St. Johanner Markt sind, kreisen ums Schiff. Das mag daran liegen, dass es in Gerhards Geschichte um einen Frauenarzt geht und er das Wort "Titten" einige Male durch den Lautsprecher in die Nacht schleudert. An Bord kommen will an diesem Abend niemand von den Neugierigen. Das nächste Mal vielleicht, wenn die in der Kajüte wieder weit rausfahren, ohne den Landwehrplatz zu verlassen.
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