Unter Weltverbesserern

Saarbrücken · Das Gasthaus Bingert im Nauwieser Viertel war 20 Jahre lang das Herz des Nauwieser Viertels und ein gesellschaftliches Experiment. Einer der Gleichgesinnten, die dort hinterm Tresen standen, war Mohsen Ramazani-Mogghaddam, Doktor der Physik. Jetzt hat er ein Buch darüber geschrieben. Heute wird es im Kino Achteinhalb in einer szenischen Lesung präsentiert.

Nur echt mit Fahrrad: Mohsen Ramazani-Mogghaddam vor dem legendären Gasthaus Bingert. Foto: Kerstin Krämer

Nur echt mit Fahrrad: Mohsen Ramazani-Mogghaddam vor dem legendären Gasthaus Bingert. Foto: Kerstin Krämer

Foto: Kerstin Krämer

"Ich bin im Grunde ein schwermütiger Mensch. Dagegen muss man angehen", sagt Mohsen Ramazani-Mogghaddam. "Herausforderungen halten einen am Leben!" Seine bestand darin, dass er sich zwei Jahrzehnte von der Seele schrieb - jene 20 Jahre von 1978 bis 1998, in denen die Nauwieser Intellektuellenkneipe Bingert kollektiv verwaltet wurde von einer Handvoll Gleichgesinnter, denen Ramazani angehörte. Der Gedanke dahinter war antikapitalistisch: Man war gegen Ausbeutung von Mitarbeitern und wollte gemeinsam Verantwortung übernehmen - ein Ideal, das mit aufreibenden Diskussionen bezahlt wurde.

Langfristig sei ein solches Modell zwangsläufig zum Scheitern verurteilt: zu unterschiedlich die Interessen, zu individuell die Charaktere, glaubt Ramazani, dessen Aufzeichnungen anfangs nur für ihn selbst gedacht waren. Doch dann war er so unvorsichtig, anderen davon zu erzählen, und wurde von zahlreichen Leuten prompt dazu ermutigt und dabei unterstützt, seine Erinnerungen als Buch zu veröffentlichen. Jetzt ist es soweit: In "Ein Hauch Vergangenheit " lässt Ramazani ein Stück Saarbrücker Kultur- und Zeitgeschichte Revue passieren. Ein fein beobachtetes und herrlich lakonisch und selbstironisch geschildertes Panoptikum von linken Aktivisten, Atomkraftgegnern, bekennenden Alkoholikern, Fußball- und Skatfanatikern, Exilanten und Weltverbesserern; mit köstlichen Anekdoten über klassenkämpferische, friedens- oder frauenbewegte Debatten - quasi ein lokal gerahmter, mikrokosmischer Spiegel dessen, was in jener Zeit die Welt bewegte.

Vielleicht ist es die kulturelle Distanz, die Ramazanis Blick schulte. Der 1950 geborene Iraner, der mit seinem obligatorischen Fahrrad wie verwachsen scheint und als gemächlicher Radler das Saarbrücker Stadtbild prägt, kam in den 70er-Jahren nach Saarbrücken , um Physik zu studieren. Nach seiner Promotion war er lange Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter der Saar-Uni, stand jedoch weiterhin zwei bis drei Mal pro Woche im Bingert hinter der Theke. "Die Zeit im Bingert war sehr gut für mich", erzählt Ramazani. "Mir als Immigrant war das Soziale wichtig. Ich wurde warmherzig aufgenommen und lernte Leute kennen, die sich für Literatur interessierten und kritisch gegenüber Staat und Regierung waren."

Dass Letzteres im Iran nicht selbstverständlich ist, erörtert er in einem eigenen Kapitel. Weil leider kein regionaler Verlag sich für sein Büchlein interessierte, bringt Ramazani es nun im Eigenverlag für 12,90 Euro heraus und hockt ganz allein auf den Druckkosten für 1000 Exemplare - ein Zuschuss der Heinrich-Böll-Stiftung floss ins Layout und die Illustrationen von Stefan "Ede" Grenner. "Ein Buch zu schreiben ist wie eine Achterbahnfahrt", schmunzelt Ramazani. Jetzt ist ihm entsprechend schwindlig: "Ich bin ein bisschen viel aufgeregt!"

Buchvorstellung heute, Freitag, 20 Uhr, Kino Achteinhalb . Mit einer Lesung von Bob Ziegenbalg und Nicolas Bertholet vom Theater Überzwerg in Kooperation mit der Heinrich Böll Stiftung Saar. Eintritt 6 Euro. Karten an der Kinokasse, Tel. (06 81) 3 90 88 80.

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