Schrecken soll "erfahrbar bleiben"

Saarbrücken. Wer über die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten im "Dritten Reich" diskutiert, wagt sich auf hochsensibles Terrain

Saarbrücken. Wer über die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten im "Dritten Reich" diskutiert, wagt sich auf hochsensibles Terrain. Denn die Wunden der Überlebenden sind bis heute nicht verheilt, und auch die Kinder und Enkelkinder derer, die den Holocaust miterleben mussten, werden beim Sprechen über das "Gedenken" stets an das Schicksal ihrer eigenen Familie erinnert. Dass da auch gut gemeinte Redebeiträge verletzen können, erfuhren am Donnerstag Podiumsgäste und Zuhörer im Rathausfestsaal. Dort hatten der Verein "Denkmal Mit" und das Stadtarchiv zu einer Diskussionsrunde zum Thema "Gedenken - quälender Ritus oder aufrichtige Mahnung?" eingeladen. "Ich bin nicht einverstanden, wie hier gesprochen wird. Es wird darüber geredet und zu dick aufgetragen", machte sich Peter Fischer vom Zentralrat der Juden in Deutschland Luft.Anlass für diesen emotionalen Zwischenruf war der Vorschlag von Rüdiger Minow, jeder am Tisch möge - als Mitglied einer Opfer- oder Täterfamilie - seinen persönlichen Hintergrund erläutern. Doch während es Minow, dem Initiator des Zugs der Erinnerung, nicht schwer fiel, sich zur Herkunft aus einer "Täterfamilie" zu bekennen, war es Peter Fischer nicht möglich, über die Geschichte seiner Familie zu sprechen. "Mit der Konfrontation von Opfern und Tätern habe ich ein Problem", sagte Fischer, der auch das Motto "Quälender Ritus oder aufrichtige Mahnung?" in Frage stellte. Riten, so Fischer, müssten keineswegs quälend sein, sondern hätten in der jüdischen Tradition ihren festen Platz. Außerdem gewähleisteten sie, dass die Würde der Opfer gewahrt bleibe."Rituale können helfen, Unerträgliches gedenkbar zu machen", sagte Rainer Hudemann, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität des Saarlandes. Allerdings sei es auch wichtig, "emotionale Betroffenheit herzustellen". Daher müsse "der Schrecken erfahrbar bleiben". Der italienische Historiker Brunello Mantelli wies darauf hin, dass das Gedenken an die Schoah keine deutsche, sondern eine europäische Frage sei. "Gedenken ist eine Handlung für die Opfer", betonte Rüdiger Minow. Wenn diese Handlung vollzogen werde, ohne dass den Opfern geholfen werde, bleibe es bei einem "abstrakten Erinnern". Weltweit gebe es heute etwa noch 180000 Überlebende des Holocaust, denen mit Gedenkfeiern allein nicht geholfen sei, gab Minow zu bedenken. Ivica Maksimovik, Rektor der Hochschule für Bildende Künste Saar, setzt bei der Entwicklung neuer Formen des Gedenkens auf die junge Generation. Er berichtete von Kunstprojekten, mit denen Studierende der HBK an die Reichspogromnacht erinnert hatten. Sie gestalteten fiktive Werbeanzeigen für ehemalige jüdische Geschäfte und wiesen Passanten in der Bahnhofstraße auf Läden hin, die früher jüdischen Familien gehörten. Ein positiver Nebeneffekt der HBK-Projekte: Ungewöhnlich viele junge Menschen kamen in den Rathausfestsaal, um die Debatte aufmerksam zu verfolgen. Dass die Diskussion nicht aus dem Ruder lief, war Anke Schäfer zu verdanken, die souverän vermittelte. Sie moderierte den Abend für SR2 Kulturradio, wo die Diskussion am 25. November, 20.04 Uhr, nachzuhören ist.

HintergrundMit Mahnwachen, Gottesdiensten, Erinnerungsveranstaltungen und Kunstprojekten wurde rund um den 9. November an die Reichspogromnacht vor 70 Jahren erinnert. Allein in Saarbrücken gab es nach Angaben von Richard Borg vom Verein "Denkmal Mit" 18 Veranstaltungen. Doch das Interesse sei vergleichsweise gering, meinte Borg, und stellte die Frage, ob die Erinnerungsarbeit neuer Impulse bedürfe. Der Verein "Denkmal Mit" regt den Bau eines "sichtbaren Mahnmals für die Opfer des Holocausts im Saarland" an. rae

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