„Nur bei der Atomuhr fehlt die Sekunde – in 20 Millionen Jahren“

Merzig/Saarlouis · Über eine „böse Falle bei der Krankmeldung“ hatten wir berichtet. Die AOK hatte auf angebliche Unterbrechungen von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen mit Strafen reagiert. Der Merziger Allgemein- und Sportmediziner Dr. Ernst M. Zimmer hält das für ein Unding und schickt der SZ hierzu eine Stellungnahme.

Die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit (AU) erfordert von uns Ärzten, ob ihrer wirtschaftlichen und versicherungsrechtlichen Tragweite, besondere Sorgfalt. Maßgebend ist für uns die so genannte AU-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses in der Fassung vom 14. November 2013. In § 2 sind die Definition und die Bewertungsmaßstäbe der Arbeitsunfähigkeit geregelt. Hier gibt es eine Differenzierung in Versicherte mit Arbeit, Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger.

In § 4 und in 5 ist das Verfahren zur Feststellung der AU geregelt - hier wird keine Differenzierung in obige Gruppen vorgenommen. Die Feststellung der AU darf nur auf Grund einer ärztlichen Untersuchung erfolgen. AU-Bescheinigungen dürfen nur von Vertragsärzten erfolgen.

Dauert die AU länger, als in der Erstbescheinigung angegeben, ist nach Prüfung der aktuellen Verhältnisse eine ärztliche Bescheinigung jeweils mit Angabe aller aktuell die AU begründenden Diagnosen über das Fortbestehen der AU mit einer Folgebescheinigung auszustellen. Dies trifft auch zu, wenn aus gesundheitlichen Gründen der Versuch der Wiederaufnahme einer Tätigkeit nach Beendigung der vom Arzt festgestellten AU nicht erfolgreich gewesen sein sollte. Die AU wird dadurch nicht unterbrochen, sondern sie besteht bis zur endgültigen Wiederaufnahme der Arbeit fort. Praktisches Beispiel: Versicherter wird bis Sonntag, 2. März, arbeitsunfähig geschrieben. Bekanntlich endet dieser Tag um Mitternacht 24 Uhr. Am Montag, 3. März, erscheint er bei seinem Arzt, wird untersucht und weiterhin arbeitsunfähig geschrieben. Der Montag beginnt bekanntlich um 0 Uhr, was identisch ist mit 24 Uhr.

Ich kann hier keine zeitliche Lücke erkennen. Bekanntlich hat die Atomuhr eine relative Standardabweichung von einer Sekunde in 20 Millionen Jahren. Allenfalls dort kann ich eine zeitliche Lücke erkennen.

Auch entsteht keine Lücke, wenn der Versicherte am Montag für zwei Stunden seine Arbeit wieder aufnimmt, krankheitsbedingt wieder abbricht und von seinem Arzt weiter krankgeschrieben wird. Die Forderung der AOK, den Versicherten - in diesem Beispiel - am Freitag, 28. Februar, also zwei Tage vor Ablauf der AU einzubestellen und dann die Folgebescheinigung auszustellen, ist durch die Richtlinie nicht gedeckt. Wir Ärzte sind keine Hellseher, die schon freitags beurteilen können, wie es dem Patienten bei Ablauf der AU am Sonntag, 24 Uhr, gesundheitlich geht. Man müsste dann auch die Folgebescheinigung umbenennen in Vorabbescheinigung.

Ich bin seit über 30 Jahren Kassenarzt und täglich mit dem Thema befasst. Bisher zeigt nur die AOK Saar diese Spitzfindigkeit. Bei den anderen Kassen habe ich das noch nicht erlebt. Was die AOK hier betreibt, ist reine Rabulistik auf dem Rücken der Versicherten. Sie macht sich ihre eigenen Gesetze. Das ist meines Erachtens nicht zulässig und hat vor Gericht auch keinen Bestand.

Ähnliches gesetzwidriges Verhalten mancher Krankenkassen hat kürzlich die Sendung "Frontal 21" angeprangert. Hier ging es um die Unsitte des MDK (medizinischen Dienstes der Krankenkassen), Versicherte nach Aktenlage ohne ärztliche Untersuchung als arbeitsfähig zu beurteilen. Dies ist rechtlich nicht haltbar und wird trotzdem tagtäglich vom MDK praktiziert.

Ich kann jedem Versicherten nur raten, sich in diesen Fällen Rechtsbeistand zu suchen. Das Verhalten der Kassen ist umso mehr zu verurteilen, da es sich bei den betroffenen Versicherten meist um sozial Schwache handelt.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort